§ 1570 BGB gilt auch für volljährige Kinder
Der Fall:
Das zweite Kind der Eheleute war 2004 mit Gendefekten geboren worden: Trisomie 18 + Monosomie 2q, welche mit tiefgreifenden Entwicklungsstörungen (ICD: F 84) und schwerster Intelligenzminderung (ICD: F 73) einhergehen, hat einen Grad der Behinderung von 100 und ist seit dem Jahr 2017 in Pflegestufe 4 eingruppiert. Der Medizinische Dienst Hessen stellte zuletzt einen wöchentlichen Pflegeaufwand von 70 Stunden fest.
Nach Trennung/ Scheidung seiner Eltern lebt das Kind mit seiner Mutter zusammen, die es von Geburt an betreut hat.
Die Werktage (bis 15:45h, freitags bis 12:30h) verbringt das behinderte Kind in einer Werkstatt für Behinderte, Samstags betreut der Vater das Kind tagsüber für 7 Stunden. Die übrige Betreuung wird von der Mutter geleistet, die deshalb nicht erwerbstätig ist und Unterhalt vom Vater des Kindes / geschiedenen Ehemann begehrt. Ihre Zeit mit dem Kind ist von vielen Terminen (Arzt, Physio) und häuslichen Trainings mit dem Kind gefüllt, außerdem gibt es etlichen organisatorischen Aufwand im Zusammenhang mit Operationen des Kindes.
Im Streit um den Nachscheidungsunterhalt bestritt der Vater den tatsächlichen Umfang des Pflegeaufwandes der Mutter und meinte, eine 25-Wochenstunden-Erwerbstätigkeit sei daneben möglich, weil das Kind ja tagsüber viele Stunden fremdbetreut sei. Zudem sei das volljährige behinderte Kind nicht mehr auf die persönliche Betreuung seiner Mutter angewiesen. Daher sei es sowieso sinnvoll, das Kind aus der Familienpflege in eine Wohngruppe zu geben.
Die Entscheidung:
Mit dem Argument des möglichen Umzuges in eine Betreuungseinrichtung befasste sich das Familiengericht gar nicht erst, denn der Aufenthalt des Kindes fiel in die Zuständigkeit des Betreuungsgerichts, wo auch noch ein Verfahren zwischen den Eltern lief. Die Mutter war vorläufig zur gesetzlichen Betreuerin bestellt worden und durfte daher zurzeit über den Lebensmittelpunkt des Kindes entscheiden.
Das OLG rechnete aus, dass die Mutter trotz der Fremdbetreuung in der Ausbildungswerkstatt und der samstäglichen Betreuung durch den Vater höchstens 3 Wochenstunden erwerbstätig sein könne.
Denn es sei zu beachten, dass eine Erwerbstätigkeit nicht zu einer überobligationsmäßigen Belastung des betreuenden Elternteils führen dürfe (BGH, Beschluss vom 18.03.2009 - XII ZR 74/08 = FamRZ 2009, 959 ; Beschluss vom 06.05.2009 - XII ZR 114/08 = FamRZ 2009, 1124 ).
Möge auch der konkrete Zeitaufwand nicht benannt und nachgewiesen worden sein, könne unter Berücksichtigung der Gesamtumstände jedenfalls nicht davon ausgegangen werden, dass überhaupt noch Zeit zur Aufnahme einer teilschichtigen Erwerbstätigkeit verfügbar wäre. Angesichts der Tatsache, dass die Frau über keinerlei Berufsausbildung und –erfahrung verfüge, erschien dem OLG die Suche nach einer Tätigkeit für nur 3 Wochenstunden sinnlos.
OLG Frankfurt/Main, Beschluss vom 05.09.2023 - Aktenzeichen 6 UF 69/23