Elternentfremdung

Bindungsfürsorge

Maternal Gatekeeping - PAS - Parental Alienation Syndrom - Elterliches Entfremdungssyndrom - induzierter Wille - Manipulation - Gehirnwäsche - Bindungstoleranz - Bindungsfürsorge


Eltern-Kind-Entfremdung

Der ARD-Film „Weil du mir gehörst“ thematisierte im Februar 2020 das weitverbreitete Phänomen der Eltern-Kind-Entfremdung mit hoher Dunkelziffer.


Beim Elterlichen Entfremdungssyndrom han­delt es sich um einen speziellen Subtyp von Eltern-Kind-Entfremdung – vorwiegend – bei Trennungs- und Scheidungskonflikten i. S. einer induzierten kindlichen Folgestörung von schwer manipulativem (indoktrinierendem) Fehlverhalten von Eltern und/oder anderen wichtigen Bezugspersonen.


Dabei lehnt das Kind irrational und ohne realen Grund jeden Kontakt zu einem zuvor geliebten und kompetenten Elternteil radikal ab.

PAS galt als Synonym oder Indexbegriff für ein Problem in der Beziehung zwischen Betreuungsperson und Kind (Caregiver-Child Relationship) und kam in den 90er Jahren durch Veröffentlichungen von Richard Gardner in das Blickfeld der Familiengerichte.


PAS wird heute als "Mythos ohne Evidenzbasierung" abgelehnt, vgl. die Aufsätze von Altendorfer-Kling/Kliemann in ff03/2024 S. 98ff. und Bruch in FamRZ 2002, S. 1304ff., sowie das Buch von Renz-Polster "Mit Herz und Klarheit" S. 71ff. Parental Alienation ist auch im neuen ICD-11 keine Diagnose. 


Der Wissenschaftsstreit über die Existenz von PAS ist den Eltern, die erleben, wie sich ihr getrennt lebendes Kind von ihnen abwendet, egal. Wenn sie bei der Ursachenforschung keine Eigenanteile finden konnten, dann vermuten sie, dass der andere Elternteil "dahintersteckt" und das Kind "manipuliert". Ja, das gibt es so - manchmal ganz bewusst, viel häufiger aber unbewusst. Die dazu passenden Fachbegriffe sind heutzutage die fehlende Bindungstoleranz oder -fürsorge.

In der Praxis wird der vorsätzliche Entfremdungsmechanismus von den am familiengerichtlichen Verfahren beteiligten Professionen oft erst erkannt, wenn der Weg unumkehrbar geworden ist - zuvor wird häufig bagatellisiert. Dem Umgangs-Elternteil wird typischerweise vorgehalten, dass er Teil eines hochstrittigen Systems sei, obwohl es für ihn keine Möglichkeit gibt, daraus auszusteigen, ohne das Kind ganz loszulassen.

Die Zeit spielt dann dem in die Hände, der das Kind manipuliert.


Der entfremdende Elternteil wird am Ende faktisch belohnt, weil Familienrecht kein Strafrecht ist.


Wichtig ist aber:

Nicht jedes Umgangsproblem ist ein Manipulationsergebnis. Es kann ja auch am Umgangs-Elternteil liegen, seiner fehlenden Feinfühligkeit, an Unzuverlässigkeit, fehlenden Erziehungskompetenzen oder magerer Bindungsqualität, wenn das Kind sich bei ihm nicht wohlfühlt.

Es gibt auch Fälle, in denen der Umgangs-Elternteil das Kind von sich "wegtreibt", weil er es nicht lassen kann, immer wieder Loyalitätskonflikte zu erzeugen, z.B. schlecht über den Anderen zu reden oder dessen erzieherische Ansätze zu untergraben.

Das Kind sucht seinen Ausweg häufig dann darin, den Umgang abzulehnen, um diese Zwickmühle nicht mehr ertragen zu müssen.


BVerfG 17.11.2023: Konzept des "Parental Alienation Syndrome" (PAS) ist "überkommen und fachwissenschaftlich als widerlegt geltend"

Das Thema Entfremdung spielte eine zentrale Rolle in der BVerfG-Entscheidung vom 17. November 2023 (1 BvR 1076/23): Das BVerfG kritisierte die Verwendung des Konzepts der Eltern-Kind-Entfremdung durch das Oberlandesgericht Köln als Begründung für die Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts.


BVerfG: "Mit der vom Oberlandesgericht herangezogenen Eltern-Kind-Entfremdung wird auf das überkommene und fachwissenschaftlich als widerlegt geltende Konzept des sogenannten Parental Alienation Syndrom (kurz PAS) zurückgegriffen. Das genügt als hinreichend tragfähige Grundlage für eine am Kindeswohl orientierte Entscheidung nicht."


Das Kölner OLG (8.5.2023, 25 UF 19/23) hatte dem Kindesvater im Wege eines Eilbeschlusses das Aufenthaltsbestimmungsrecht übertragen. 2021 war dieselbe Familie schon beim OLG und hatte dort den Eindruck hinterlassen, die Mutter - eine Juristin - wünsche und beabsichtige eine Vater-Kind-Entfremdung. Direkt nach der Trennung im Jahr 2020 hatten die beiden Kinder sich ein Wechselmodell gewünscht, zur Umsetzung war es aufgrund des Widerstands der Mutter nie gekommen - inzwischen lehnten sie den Kontakt zum Vater ganz ab.


Im hochstrittigen Verlauf hatte die Mutter sich über zahlreiche Gerichtsbeschlüsse, die den Umgang zum Vater regelten, faktisch hinweggesetzt und Ordnungsmittel riskiert. Sie hatte angekündigt, den Umgang weiterhin zu unterbinden, weil die Kinder dies so wünschten. In den richterlichen Anhörungen hatte sich diese Ablehnung so nicht bestätigt, aber selbst wenn das so sei, sei es kein beachtenswerter Kindeswille - so OLG Köln.


Das OLG Köln begründete damit Zweifel an der Erziehungsfähigkeit der Mutter. Im Hauptsacheverfahren sollte dies begutachtet werden, wobei die Mutter bereits mitgeteilt hatte, weder sie noch die Kinder werden am Gutachten mitwirken.

Das OLG: "Um einer weiteren bzw. vollständigen Entfremdung der Kinder von dem Kindesvater entgegenzuwirken, ist das Aufenthaltsbestimmungsrecht vor dem Hintergrund der vorstehenden Ausführungen jedenfalls vorläufig auf den Kindesvater zu übertragen, bis in der Hauptsache die endgültige Zuweisung des Aufenthaltsbestimmungsrechts geklärt ist. Der Senat geht dabei aus, dass der Kindesvater der Kindesmutter dabei grundsätzlich Umgangskontakte – ggf. in begleiteter Form - ermöglichen wird."


Mit ihrer Verfassungsbeschwerde machte die Mutter die Verletzung von Art. 6 Abs. 2 GG und Art. 103 Abs. 1 GG geltend. Ihr Elternrecht sei verletzt, weil das Oberlandesgericht auf das Konfliktverhalten und die Persönlichkeit der Mutter abgestellt habe, ohne das Ergebnis eines 2 Jahre alten Sachverständigengutachtens sowie die Ausführungen des Verfahrensbeistands oder den nachhaltig bekundeten Willen der Kinder auf Fortbestand ihres Lebensmittelpunkts im Haushalt der Mutter berücksichtigt zu haben.


Das BVerfG hob die Kölner Entscheidung auf, stellte klar, dass eine Sorgerechtsentscheidung nicht auf das Vorliegen einer angeblichen Eltern-Kind-Entfremdung gestützt werden darf und betonte, dass Entscheidungen über die Übertragung des Sorgerechts nicht an einer Sanktion des Fehlverhaltens eines Elternteils, sondern vorrangig am Kindeswohl zu orientieren seien.


BVerfG zu PAS:

Das Oberlandesgericht hat bei der vorläufigen Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts auf den Vater allein auch insoweit die Bedeutung des Elternrechts (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG) grundlegend verkannt, als es in seiner Begründung maßgeblich darauf abstellt, die Beschwerdeführerin entfremde dem Vater die Kinder. Dies lässt nicht hinreichend deutlich werden, dass es sich gemäß den verfassungsrechtlichen Vorgaben (vgl. Rn. 26) vorrangig am Wohl des Kindes orientiert und nicht — wenn auch insoweit nicht ohne Anhaltspunkte — das als Fehlverhalten bewertete Agieren der Beschwerdeführerin sanktionieren wolle. Das schließt nicht aus, im Rahmen der gebotenen Kindeswohlorientierung das bisherige Verhalten der Beschwerdeführerin, unter anderem die zahlreichen wegen der Verweigerung angeordneten Umgangs gegen sie angeordneten Ordnungsmittel, zu berücksichtigen.34

dd) Die Entscheidung stellt sich derzeit auch nicht aus anderen Gründen einfachrechtlich als zutreffend dar. Mit der vom Oberlandesgericht herangezogenen Eltern-Kind-Entfremdung wird auf das überkommene und fachwissenschaftlich als widerlegt geltende Konzept des sogenannten Parental Alienation Syndrom (kurz PAS) zurückgegriffen. Das genügt als hinreichend tragfähige Grundlage für eine am Kindeswohl orientierte Entscheidung nicht. Soweit ersichtlich besteht nach derzeitigem Stand der Fachwissenschaft kein empirischer Beleg für eine elterliche Manipulation bei kindlicher Ablehnung des anderen Elternteils oder für die Wirksamkeit einer Herausnahme des Kindes aus dem Haushalt des angeblich manipulierenden Elternteils (vgl. umfassend Zimmermann/Fichtner/Walper/Lux/Kindler, in: ZKJ 2023, S. 43 ff., und dies. in: ZKJ 2023, S. 83 ff.).


BVerfG zum Kindeswillen:

Bei der Entscheidung über die Aufrechterhaltung oder (ggf. auch lediglich teilweise) Aufhebung der gemeinsamen elterlichen Sorge nach § 1671 Abs. 1 oder 2 BGB ist der Wille des Kindes zu berücksichtigen, soweit das mit seinem Wohl vereinbar ist. Mit der Kundgabe seines Willens macht das Kind zum einen von seinem Recht zur Selbstbestimmung Gebrauch. Ein vom Kind kundgetaner Wille kann Ausdruck von Bindungen zu einem Elternteil sein, die es geboten erscheinen lassen können, ihn in dieser Hinsicht zu berücksichtigen (vgl. BVerfGE 55, 171 <180, 182 f.>; BVerfGK 15, 509 <515>). Denn jede gerichtliche Lösung eines Konflikts zwischen den Eltern, die sich auf die Zukunft des Kindes auswirkt, muss nicht nur auf das Wohl des Kindes ausgerichtet sein, sondern das Kind auch in seiner Individualität als Grundrechtsträger berücksichtigen, weil die sorgerechtliche Regelung entscheidenden Einfluss auf das weitere Leben des Kindes nimmt und es daher unmittelbar betrifft (vgl. BVerfGE 37, 217 <252>; 55, 171 <179>). Hat der unter diesem Aspekt gesehene Kindeswille bei einem Kleinkind noch eher geringeres Gewicht, so kommt ihm im zunehmenden Alter des Kindes vermehrt Bedeutung zu (vgl. BVerfGK 9, 274 <281>; 10, 519 <524>; 15, 509 <515>; stRspr). Die Nichtberücksichtigung des Kindeswillens kann dann gerechtfertigt sein, wenn die Äußerungen des Kindes dessen wirkliche Bindungsverhältnisse, etwa aufgrund Manipulation eines Elternteils, nicht zutreffend bezeichnen oder, wenn dessen Befolgung seinerseits mit dem Kindeswohl nicht vereinbar ist und zu einer Kindeswohlgefährdung führen würde (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 14. April 2021 - 1 BvR 1839/20 -, Rn. 37 m.w.N.). (...) Die angegriffene Entscheidung genügt auch insoweit nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Berücksichtigung des von den beiden Kindern geäußerten Willens. Anders als bezüglich der Einschätzung des Verfahrensbeistands erkennt und benennt das Oberlandesgericht hier zwar, dass es gegen den deutlich geäußerten Kindeswillen entscheidet. Da das ältere der Kinder mittlerweile knapp zwölf Jahre alt ist, kommt dem von ihm geäußerten Willen grundsätzlich nicht unerhebliche Bedeutung zu. Hier lässt die Entscheidung nicht erkennen, worauf das Oberlandesgericht die für sich in Anspruch genommene fachliche Expertise stützt, dass der Wille der Kinder ihren wahren Bindungen oder ihrem Wohl nicht entspreche, zumal die Kinder diesen Willen schon längere Zeit äußern und der Wille ernsthaft, stabil und zielorientiert erscheint. (...) Insoweit lässt sich unter Berücksichtigung des bisherigen Verhaltens der Beschwerdeführerin keineswegs ausschließen, bei näherer Begründung und gegebenenfalls — im Hauptsacheverfahren ohnehin bereits beauftragter — sachverständiger Beratung die Entscheidung über das Aufenthaltsbestimmungsrecht gegen den ausdrücklich erklärten Willen der Kinder zu treffen. Das setzt aber voraus, sich mit der Bedeutung des Kindeswillens und den Voraussetzungen eines Abweichens vom geäußerten Willen eingehend zu befassen. Daran fehlt es in dem angegriffenen Beschluss. Sollte die Beschwerdeführerin auch weiterhin ihre Mitwirkung an dem in Auftrag gegebenen Gutachten im Hauptsacheverfahren verweigern und ihre Zustimmung zur Exploration der Kinder verweigern, wird dies innerhalb des fach- und verfassungsrechtlich geltenden Rahmens (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 17. Februar 2010 - XII ZB 68/09 -, BGHZ 184, 269 <279 f. Rn. 33 f.; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 2. April 2009 - 1 BvR 683/09 -, Rn. 11) sowohl bei der erneuten Entscheidung über die vorläufige Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts als auch im Hauptsacheverfahren zur elterlichen Sorge zu berücksichtigen sein.


Weil Du mir gehörst - ARD-Film über Entfremdung nach Trennung

Ein gutes Jahr nach ihrer Scheidung stehen Julia und Tom erneut vor Gericht. Das Sorgerecht für die gemeinsame Tochter soll auf Julias Antrag hin neu entschieden werden. Bei der Befragung gerät die achtjährige Anni in Panik – sie möchte lieber tot sein, als mit ihrem Vater zu tun zu haben. Was hat zu dieser vehementen Ablehnung geführt?

Ein Jahr zuvor sieht es noch anders aus. Julia und Tom teilen sich das Sorgerecht und Anni verbringt jedes zweite Wochenende bei ihrem Vater, den sie innig liebt. Tom hat, anders als Julia, eine neue Partnerin. Mit Jenny und ihrer kleinen Tochter Mia versteht Anni sich gut, es wächst so etwas wie eine neue Familie zusammen. Nur Julia kommt mit der neuen Situation nicht zurecht. In ihrem Schmerz beginnt sie, Anni zu manipulieren und gegen den Vater einzunehmen. Julia verhindert Toms Treffen mit seiner Tochter und sagt Anni, ihr Vater habe sie wegen seiner Arbeit oder seiner neuen Familie vergessen. Tom braucht lange, um zu begreifen, was hier vorgeht. Als Julia sich einen Anwalt nimmt und mit allen Mitteln um die Aufhebung des gemeinsamen Sorgerechts kämpft, wird klar, dass sie Tom aus Annis Leben werfen will. Damit setzt sie einen Prozess in Gang, der immer mehr eskaliert und das Mädchen zunehmend verstört.

Als Paar sind sie gescheitert, doch als Eltern teilen sich Julia und Tom, gespielt von Julia Koschitz und Felix Klare, nach der Scheidung das Sorgerecht für die Tochter Anni. Von ihren verletzten Gefühlen getrieben, beginnt Julia, das Mädchen systematisch dem Vater zu entfremden.


Der Film hat den SAT3-Zuschauerpreis erhalten.


OLG Frankfurt a.M. 29.01.2025: Kindeswohlprüfung ist kein Eltern-Strafrecht

"Kinder ins Heim" ist keine empirisch belegbare bessere Lösung

Kindesschutzrechtliche Maßnahmen sind nur am Kindeswohl auszurichten und dienen nicht der Bestrafung vermeintlichen Fehlverhaltens eines Elternteils. Das hat das OLG Frankfurt klargestellt und einem Entzug des Sorgerechts durch die Vorinstanz widersprochen. Der Mutter war vorgeworfen worden, ihre Kinder zu manipulieren.


Die Eltern ihrer zwölf, zehn und sieben Jahre alten Kinder streiten seit 2022 hochkonflikthaft um die elterliche Sorge. Die Kinder leben bei der Mutter. Ein dauerhaft regelmäßiger und stabiler Umgang mit dem Vater ließ sich nicht etablieren, wofür der Vater die Mutter verantwortlich machte, weil diese die Kinder entsprechend manipulieren würde. 

Schließlich beantragte der Vater, ihm die alleinige elterliche Sorge zu übertragen. In dem vom Amtsgericht eingeholten „lösungsorientierten“ Sachverständigengutachten wurde eine temporäre Fremdunterbringung der Kinder thematisiert. 

Nach einer weiteren Anhörung der Kinder und der Beteiligten entzog das Familiengericht beiden Eltern u.a. das Aufenthaltsbestimmungsrecht und übertrug es auf das Jugendamt. Die Kinder wurden nachfolgend in einer Wohnheim-Wochengruppe untergebracht und verbrachten die Wochenenden im Wechsel bei ihren Eltern.

Gegen diese Entscheidung des Familiengerichts haben beide Eltern Beschwerde eingelegt. Nach erneuter Anhörung und auf Hinweis des Senats kehrten die Kinder in den Haushalt der Mutter zurück. 


Wesentliche Entscheidungsgründe

Das OLG Frankfurt am Main hat beschlossen, das Sorgerecht wieder den Eltern zur gemeinsamen Ausübung zuzuweisen. 

Das OLG begründetet seine Entscheidung damit, dass der vom Amtsgericht angeordnete Entzug der elterlichen Sorge unverhältnismäßig gewesen sei. 

Im Rahmen einer differenzierten Aufklärung und Gefahrenabwägung sei der hier zum Zweck der Fremdunterbringung beschlossene Sorgerechtsentzug nicht das für die Kinder einzig gebotene und verhältnismäßige Mittel gewesen, um ihre Gesamtsituation zu verbessern. 

In die Gesamtschau der verschiedenen Gefährdungsaspekte sei zwar einerseits die Beeinträchtigung der Kinder durch den hochkonflikthaften Umgangsstreit ihrer Eltern einzustellen. 

Zu berücksichtigen seien aber andererseits die mit der Herausnahme aus dem Haushalt der Mutter für die Kinder offensichtlich verbundenen schwerwiegenden Entwicklungsrisiken. 

Der Umzug in die Wochengruppe hätte eine komplette Entwurzelung - von ihrem Zuhause, ihrer Mutter als Hauptbezugsperson, der weiteren Familie, ihren Freunden, ihren bisherigen Schulen wie auch ihrem sozialen Umfeld im Übrigen bedeutet. 

Es gebe derzeit auch keinen empirischen Beleg für die Wirksamkeit einer Herausnahme eines Kindes aus dem Haushalt eines angeblich manipulierenden, entfremdenden Elternteils. 

Dies sei im Sachverständigengutachten verkannt worden, welches auch den Mindestanforderungen an Sachverständigengutachten im Kindschaftsrecht nicht genüge. Das immer noch herangezogene, überkommene Konzept der sog. Eltern-Kind-Entfremdung (engl. „PAS“) sei nach dem jetzigen Stand der Wissenschaft und Forschung abzulehnen.

Soweit wesentliche Anteile der Konfliktdynamik der Eltern im Verhalten der Mutter begründet seien, seien kindesschutzrechtliche Maßnahmen streng am Kindeswohl zu orientieren. 

Der Ausgleich persönlicher Defizite zwischen den Eltern oder die Sanktionierung vermeintlichen Fehlverhaltens sei nicht Maßstab und Ziel einer Sorgerechtsentscheidung. 


OLG Frankfurt am Main, Beschl. v. 29.01.2025 - 1 UF 186/24


Lieber ins Heim als bei manipulierender Mutter

- aber erst, wenn alles andere ausgeschöpft und abgewogen ist

BGH 26.10.2011 - XII ZB 247/11

Das 2000 geborene Kind hatte bis 2009 mit beiden Eltern zusammengelebt. Der Vater hatte kein Sorgerecht (unverheiratet).

Als die Eltern sich trennten, wohnte sie unter Woche bei der Oma mütterlicherseits, am Wochenende bei der Mutter – der Kontakt zum Vater brach ab. Trotz einer von den Eltern getroffenen vorläufigen Vereinbarung, eines später gegen die Mutter verhängten Ordnungsgeldes sowie einer anschließenden gerichtlichen Umgangsregelung kamen Umgangskontakte nicht zustande. Das Scheitern lag im Wesentlichen in der ablehnenden Haltung der Mutter begründet, die dem Kind wegen seines Wunsches nach Kontakt mit dem Vater unter anderem massive Vorhaltungen gemacht hatte und auch einen begleiteten Umgang im Jugendamt ablehnte. Weitere Vermittlungsbemühungen und -vorschläge blieben ohne Erfolg.

Im Juni 2010 prüfte das Amtsgericht, ob es der Mutter die elterliche Sorge entziehen könne und holte ein Gutachten zu ihrer Erziehungsfähigkeit ein. Eine Anhörung des Kindes im abschließenden Anhörungstermin ist daran gescheitert, dass die anwesende Großmutter dem Amtsrichter den Zugang zum Kind unmöglich gemacht hat.

Das Amtsgericht entschied im September 2010, der Mutter das Sorgerecht zu entziehen und das Jugendamt als Vormund einzusetzen, das Kind kam unverzüglich in ein Heim.


Das OLG Naumburg bestätigte die Entscheidung im Dezember 2010: Nämlich habe der massive Interessenkonflikt der Kindeseltern bereits deutliche und für das Kindeswohl nachteilige seelische Auswirkungen auf das Kind gehabt, sodass bereits von einem Schaden für das Kind gesprochen werden könne. Das Oberlandesgericht hat sich auf das Sachverständigen-Gutachten bezogen, nach dem das Kind auch nach der Trennung eine tiefe und eigentlich positive emotionale Bindung zum Vater habe, der sich früher ebenfalls intensiv um die Betreuung des Kindes gekümmert habe. Diese Bindung werde aber von der Mutter, die die Trennung vom Vater emotional immer noch nicht überwunden habe und diesem negativ gegenüberstehe, abgelehnt, was sie auch durch ihr Verhalten dem Kind gegenüber zum Ausdruck bringe.

Bei der Mutter, die den Vater im Beisein des Kindes auf das Übelste beschimpft habe, sei eine massive Verweigerungshaltung gegenüber den Kontakten zwischen Vater und Kind vorhanden. Dass das Kind vom "Fremdgehen" des Vaters gesprochen habe, lasse auf eine direkte und indirekte negative Beeinflussung des Kindes schließen. Der Mutter fehle diesbezüglich die elterliche Feinfühligkeit, ihr elterliches Wohlverhalten gegenüber den Bindungen des Kindes zum Vater sei eingeschränkt. Unter den dargestellten Umständen halte die Sachverständige eine gesunde Zukunftsentwicklung des Mädchens im Haushalt der Mutter nicht für möglich, unterbinde diese doch mit ihrem Verhalten auch eine gesunde Autonomieentwicklung des Kindes. Würde das Kind weiter im Haushalt der Mutter bleiben, so würde dies nach Auffassung der Sachverständigen den sicheren Kontaktabbruch zwischen Vater und Tochter zur Folge haben.

Diese Situation würde dazu führen, dass das Kind sich im Alter von 20 bis 25 Jahren wegen des erlittenen Bindungsverlustes und einer sich hieraus wahrscheinlich entwickelnden Neurose und Bindungsstörung in psychotherapeutische Behandlung werde begeben müssen. Zudem könnten die erlittenen seelischen Störungen, ggf. schon während der Pubertät, zu einer Delinquenz des Kindes führen. Auch nach den Schilderungen des Jugendamts leide das Kind unter dem Interessenkonflikt, habe nach Angaben der Schule Probleme im Umgang mit Gleichaltrigen und werde von anderen gemieden, weil es häufig nur über Zuhause spreche und einen Jargon wie Erwachsene verwende. Nach den Berichten des Verfahrensbeistands sei das Kind in seinem Bindungsverhalten gestört. Die bei ihm vorhandenen seelischen Störungen erforderten es, dass es nach seiner Heimunterbringung psychologisch und psychotherapeutisch begleitet werde. Die Mutter unternehme alles, um Umgangstermine von Vater und Kind zu konterkarieren. Nach den Angaben des Verfahrensbeistands habe das Kind bis zu seiner Heimunterbringung durch das Jugendamt in der Obhut von Großmutter und Mutter gelebt und sei diesen emotional sehr verbunden.

Da es aber gleichwohl auch eine gute Bindung zum Vater habe und eigentlich auch Kontakt zu ihm wünsche, jedoch Angst vor den Vorwürfen der Mutter und deren Hass auf den Vater habe, entscheide es sich dafür, keinen Umgang mit dem Vater zu pflegen. Das Kind wolle aber neben seinem Kontakt mit dem Vater eigentlich nur seine Ruhe vor dem Streit der Eltern haben. Die gegen den Umgang des Kindes mit seinem Vater gerichteten, von Hass gegen diesen wegen der Trennung erfüllten, sich wiederholt im Beisein des Kindes in wüsten Beschimpfungen des Vaters und teilweise auch der übrigen Verfahrensbeteiligten und des Gerichts getätigten Äußerungen und sonstigen subtilen Einflussnahmen der Mutter erforderten es zwingend, dass das Kind aus dem Haushalt der Mutter und der Großmutter herausgelöst werde. Der weitere Verbleib des Kindes im Haushalt der Mutter/Großmutter würde dazu führen, dass sich die seelischen Belastungen des Kindes weiter krankhaft verfestigten und später gar zu einer regelrechten Neurose mit etwaiger Delinquenz des Kindes auswachsen könnten.


Die Mutter habe bislang sämtliche Hilfestellungen psychologischer, psychotherapeutischer, familientherapeutischer und auch jugendamtlicher Art abgelehnt, das gerichtliche Angebot einer Mediation ausgeschlagen und sämtliche Hilfestellungen des Verfahrensbeistands und des Jugendamts beim für das Kind wichtigen Umgang mit dem Vater abgelehnt. Demnach habe keine andere Möglichkeit als die teilweise Sorgerechtsentziehung bestanden.

Wie wenig einsichtig die Mutter sei, zeige sich daran, dass Ordnungsmittel hätten verhängt werden müssen. Sie habe gar deren Vollstreckung als milderes Mittel gegen sich verlangt. Dagegen spreche bereits, dass sie es monatelang in 15 der Hand gehabt habe, dem Kind unbelasteten Umgang mit dem Vater zu ermöglichen, dies aber auch nichts an der eigentlichen Belastungssituation des Kindes, nämlich der immer wieder gegenüber dem Kind bekundeten ablehnenden Haltung gegenüber dem Vater, ändern würde.


Vor dem OLG war dann die Anhörung des Kindes möglich, weil es sich ja im Heim befand.

Dem Kind sei nach dem Gespräch mit dem Senat des Oberlandesgerichts regelrecht eine Last weggebrochen, als es von der Senatsvorsitzenden gefragt worden sei, was es davon hielte, noch eine Weile im Heim zu bleiben und Mutter und Großmutter, wie in einem Internat, an den Wochenenden besuchen zu können. Eine Justizhauptsekretärin habe dem Gericht zu berichten gewusst, dass das Kind anschließend bei einer Begegnung mit der Mutter auf dem Flur gefasst gewirkt habe, während die Mutter vor dem Kind geweint habe.


Das Oberlandesgericht hat "aufgrund der gesamten Umstände" keine andere Möglichkeit gesehen, als der Mutter das Sorgerecht teilweise zu entziehen, um das Kind "in der Obhut seines Pflegers bzw. dessen Kinderheim" zur Ruhe kommen zu lassen und ihm alsbald die von ihm gewünschten Umgangskontakte mit dem Vater zu ermöglichen.

Auch der BGH hat eine Gefährdung des Kindeswohls darin gesehen, dass das Verhalten der Mutter bei dem Kind zu einem Loyalitätskonflikt geführt habe. Dieser habe bereits manifeste Verhaltensauffälligkeiten und Bindungsstörungen hervorgerufen, die nach Mitteilung des Jugendamts sogar psychologisch und psychotherapeutisch behandelt werden müssten. Dabei handele es sich um einen Befund, der zu einem Eingriff in das Sorgerecht nach § 1666 BGB Veranlassung gibt (vgl. Senatsbeschlüsse vom 12. März 1986 - IVb ZB 87/85 - NJW-RR 1986, 1264, 1265 sowie vom 11. Juli 1984 - IVb ZB 73/83 - FamRZ 1985, 169, 171). Denn durch das Verhalten der Mutter, das sowohl durch Herabsetzung des Vaters als auch durch Manipulation des Kindes auf eine Unterbindung der Umgangskontakte gerichtet ist, werden die nach den Feststellungen der Vorinstanzen intakten Bindungen des Kindes zu seinem Vater erheblich beeinträchtigt. Das begründet jedenfalls im Zusammenhang mit dem bestehenden verschärften Elternkonflikt die Gefahr einer seelischen Schädigung des Kindes. Zugleich erweist sich eine nur eingeschränkte Erziehungseignung der Mutter, weil ihr die erforderliche Bindungstoleranz fehlt und sie dem Kind demzufolge in seiner weiteren Entwicklung nur eine unzureichende Beziehungssicherheit vermitteln kann.


Allerdings befand der BGH in jenem Fall, dass noch nicht alle „milderen Mittel“ ausgeschöpft waren, nämlich der Entzug des Sorgerechts nur für den Teilbereich „Umgang“:

Im vorliegenden Fall kommt als milderes Mittel außer der Vollstreckung der gerichtlichen Umgangsregelung aber auch die Einrichtung einer Umgangspflegschaft in Betracht, welche in § 1684 Abs. 3 Sätze 3 - 6 BGB  geregelt ist (vgl. Staudinger/Coester BGB [2009] § 1666 Rn. 146 mwN). Danach kann das Familiengericht auch eine Pflegschaft für die Durchführung des Umgangs anordnen, wenn die Eltern ihre gesetzliche Pflicht, alles zu unterlassen, was das Verhältnis des Kindes zum jeweils anderen Elternteil beeinträchtigt oder die Erziehung erschwert (§ 1684 Abs. 2 Satz 1 BGB, Wohlverhaltensgebot), dauerhaft oder wiederholt erheblich verletzen. Die Umgangspflegschaft umfasst das Recht, die Herausgabe des Kindes zur Durchführung des Umgangs zu verlangen und für die Dauer des Umgangs dessen Aufenthalt zu bestimmen. Wie sich an den Voraussetzungen der Umgangspflegschaft zeigt, ist diese vom Gesetz vor allem für den Fall der Umgangsverweigerung durch einen Elternteil und die damit verbundene Kindeswohlbeeinträchtigung (vgl. § 1626 Abs. 3 Satz 1 BGB) als geeignete Maß-27 nahme vorgesehen. Da die Umgangspflegschaft den Eingriff auf das zunächst erforderliche Maß begrenzt, ist sie gegenüber einem (vollständigen) Entzug des Aufenthaltsbestimmungsrechts nach § 1666 BGB als milderes Mittel vorrangig. Von ihrer Anordnung kann demnach nur dann abgesehen werden, wenn die Umgangspflegschaft offensichtlich keinen Erfolg verspricht.

Das Amtsgericht hatte angeführt, eine Umgangspflegschaft sei nicht in Betracht gekommen. Das Oberlandesgericht habe als mildere Maßnahme lediglich die weitere Vollstreckung der gerichtlichen Umgangsregelung in Betracht gezogen.

Das genügte zur Begründung nicht. Eine Aussichtslosigkeit der Umgangspflegschaft lässt sich nur annehmen, wenn es nach den getroffenen Feststellungen offensichtlich ist, dass eine Umgangspflegschaft keinen Erfolg haben wird. Selbst eine nahe liegende Vermutung, die Umgangspflegschaft werde nicht die erwünschten Wirkungen zeitigen, reicht aber nicht aus, um von ihrer Anordnung abzusehen und sogleich weiterreichende Maßnahmen nach § 1666 BGB zu ergreifen. Vielmehr kann von einer Umgangspflegschaft jedenfalls gegenüber einer vollständigen Entziehung des Aufenthaltsbestimmungsrechts mit dem Ziel einer Heimunterbringung nur abgesehen werden, wenn die Umgangspflegschaft sich entweder als unwirksam erwiesen hat oder von vornherein offensichtlich aussichtslos ist.


Bei der Abwägung spielte eine Rolle, dass die unbefristete Heimunterbringung einen besonders schwerwiegenden Eingriff darstellte. Die Trennung des Kindes von seinen Eltern als stärkster Eingriff in das Elternrecht darf nur unter sehr strengen Voraussetzungen erfolgen (strenge Maßstäbe des Bundesverfassungsgerichts). Dem BGH fehlte die Abwägung der Vor- und Nachteile einer Heimunterbringung.


Bei einem Obhutswechsel zum Vater wäre die Eingriffsschwelle niedriger gewesen: Gemäß § 1671 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 2 BGB ist nach der Trennung der Eltern die elterliche Sorge ganz oder teilweise auf Antrag einem Elternteil allein zu übertragen, wenn zu erwarten ist, dass die Aufhebung der gemeinsamen Sorge oder eines Teilbereichs davon sowie die Übertragung auf einen Elternteil dem Wohl des Kindes am besten entspricht. Maßstab für die zu treffende Sorgerechtsentscheidung ist nach § 1671 Abs. 2 Nr. 2 BGB das Kindeswohl, nicht der Gefährdungsaspekt.


10 Monate nach der Heimunterbringung hob der BGH die Entscheidung daher auf und verwies den Fall zurück, damit nun eine Umgangspflegschaft angeordnet werde und in der häuslichen Umgebung ein familienpsychologisches Gutachten auch unter Berücksichtigung der Mutter und der Großmutter eingeholt werde.


BGH, Beschluss vom 26.10.2011 - XII ZB 247/11



Keine Heimaufnahme zur Brechung des Kindeswillens

OLG Frankfurt a.M. 3.4.2024

Wenn ein Kind seinen getrenntlebenden Elternteil plötzlich nicht mehr sehen will, muss es dafür Gründe geben. Im Fall eines 7jährigen Mädchens, das bei seiner Mutter wohnte, war die Mutter von „sexuell getönten Vorfällen“ beim Umgangskontakt ausgegangen, der Vater von einer Manipulation durch die Mutter.


Das Amtsgericht beauftragte einen Sachverständigen, der keine Anhaltspunkte für einen hinreichenden Tatverdacht eines Kindesmissbrauchs fand. Es sprach daher nach Auffassung des Gerichts einiges dafür, dass die Ablehnung des Mädchens maßgeblich auf eine Beeinflussung durch die Mutter zurückging.


Nach zwei Jahren Gerichtsverfahren ohne Kontakt zu seiner Tochter beantragte der Vater die Herausnahme des Mädchens aus der Obhut der Mutter, weil deren Manipulation kindeswohlschädigend sei. Sachverständiger, Jugendamt und der Verfahrensbeistand des Kindes unterstützten sein Anliegen, aber weil das Mädchen sich absolut verweigerte, den Vater zu sehen, kam nicht in Betracht, dass sie bei ihm wohnen könne.


In einem Eilverfahren hatte das Amtsgericht das zu diesem Zeitpunkt 9-jährige Kind aus dem Haushalt der Mutter genommen und in ein Kinderheim gegeben.


Während der Heimunterbringung sollte sich – fern der Beeinflussung durch die Mutter, mit der keinerlei Umgang stattfinden durfte – das Kind dahin stabilisieren, dass es die unerklärliche Kontaktverweigerung zum Vater aufgeben würde. So sollte perspektivisch die gewünschte Übersiedlung des Kindes in den Haushalt des Vaters ermöglicht werden.



Das OLG Frankfurt am Main hat allerdings die Vorgehensweise des Familiengerichts nicht gebilligt und umgehend nach Eingang der Beschwerde die Rückführung des Kindes in den Haushalt der Mutter veranlasst.

Das Familiengericht darf demnach die Unterbringung des Kindes im Heim nicht allein deshalb anordnen, da eine betreuende Mutter ihr Kind dahin beeinflusst, dass es den nicht betreuenden Vater nicht mehr sehen möchte und es deswegen zu einem Kontaktabbruch kommt.

Die von dem Kind empfundene Ablehnung des nicht betreuenden Elternteils kann – wenn überhaupt – durch eine Heimunterbringung nicht ohne gravierende Verletzung des Grundrechts des Kindes auf freie Persönlichkeitsentwicklung überwunden werden.

Die negativen Folgen dieser Grundrechtsverletzung überwiegen nach Auffassung des OLG Frankfurt das berechtigte Umgangsinteresse des Vaters. Eine Maßnahme, mit der ein Kind über eine Heimunterbringung dazu gebracht werden soll, gegen seinen Willen in den Haushalt desjenigen Elternteiles zu wechseln, zu dem es aktuell jeden Kontakt ablehnt, ist daher nicht rechtmäßig.

Die Wünsche und Vorstellungen des Kindes völlig zu ignorieren stelle eine nicht zu vertretende Grundrechtsverletzung dar. Eine besondere Rolle spielte für die Entscheidung, dass es keine Anhaltspunkte für eine unzulängliche Versorgung des Kindes im Haushalt der Mutter gab.

Das Mädchen sei eine exzellente Grundschülerin mit altersgerechten Kontakten zu Gleichaltrigen und guten sozialen Kompetenzen. Unter solchen Umständen könne der entgegenstehende Wille eines neun Jahre alten Mädchens nicht übergangen werden.

Die nachvollziehbare Verzweiflung des umgangsberechtigten Vaters habe nach Auffassung des Senats dazu beigetragen, dass Jugendamt, Sachverständiger und Verfahrensbeistand eine solche den Willen des Kindes brechende Maßnahme befürwortet hätten.

Dabei sei jedoch nicht hinreichend beachtet worden, dass der Kontaktabbruch zur hauptbetreuenden Mutter für das Kind unerträglich gewesen sei, während das Kind unter dem fehlenden Umgang zum Vater in keiner Weise gelitten, sondern diesen aktiv gewünscht habe.

Da zudem äußerst fraglich schiene, ob das gewünschte Ziel eines Wechsels in den Haushalt des Vaters durch die Heimunterbringung überhaupt erreicht werden könne, sei die Maßnahme im Übrigen völlig ungeeignet.


OLG Frankfurt am Main, Beschl. v. 03.04.2024 – 7 UF 46/23

 


Anders

OLG Frankfurt a.M. vom 19.04.2005:

Entfremdetes Kind kommt zum Vater,

sogar Pflegefamilie wäre besser als manipulierende Mutter


Aus den Gründen:

Der Senat hat keinen Zweifel daran, dass die Angaben der Mutter, sie habe nur Ängsten der Tochter Rechnung tragen wollen, vorgeschoben sind und es ihr letztlich – bewusst oder auch unbewusst – darum geht, Kontakte des Vaters mit dem Kind zu unterbinden.


Ein weiteres Unterbleiben von unbefangenen Kontakten des Kindes mit dem Vater, welches Gelegenheit haben muss, allein in ausreichendem Umfang mit dem Vater ohne Beisein der Mutter oder Dritter, zusammen zu sein, würde langfristig zu einer Schädigung des Kindes führen. Den diesbezüglichen Äußerungen der Sachverständigen ist nichts hinzu zu fügen.


Um dieser Gefahr zu begegnen, ist die beste Möglichkeit, die Tochter aus dem Haushalt der Mutter heraus zu nehmen. Geschähe dies nicht, so bestünden nur die zwei folgenden Perspektiven:

Entweder der Vater würde irgendwann sein Bemühen um Umgang mit dem Kind aufgeben. Das Kind würde ohne Kontakte zum Vater aufwachsen mit denen sich daraus ergebenden nachteiligen Folgen.

Die andere Möglichkeit wäre, dass, wie es der Erfahrung des Senats in derartigen Fällen entspricht, ein langjähriger Kampf um den Umgang entbrennen würde mit immer neuen gerichtlichen Verfahren und Versuchen, den Umgang zwangsweise durchzusetzen bis hin zur Zwangshaft (OLG Frankfurt/Main, 1. Senat für Familiensachen, FamRZ 2002, S. 1585 ff.). Hierdurch wäre das Kind vermutlich mehrjährigen psychischen Belastungen ausgesetzt. Demgegenüber ist ein rascher Schnitt durch eine Herausnahme des Kindes aus dem mütterlichen Haushalt die dem Kindeswohl zuträglichere Lösung. Mit der Sachverständigen und in Übereinstimmung mit dem Jugendamt und der Verfahrenspflegerin hält der Senat den Vater durchaus für geeignet, die elterliche Sorge zu übernehmen. Dass er nach einer Herausnahme des Kindes aus dem mütterlichen Haushalt die Probleme zunächst nicht allein wird bewältigen können und er professioneller Hilfe bedarf, liegt auf der Hand. Dem Vater ist dies indessen bewusst und er ist bereit mit dem Jugendamt zusammen zu arbeiten. Vor diesem Hintergrund besteht die Erwartung, dass es zu seiner stufenweisen Eingewöhnung des Kindes in den Haushalt des Vaters durch vorübergehende Unterbringung in einer Pflegestelle kommen wird.

Soweit zwischen der Sachverständigen und dem Jugendamt unterschiedliche Vorstellungen über die Länge eines solchen Aufenthalts bestehen, hat der Senat keine Entscheidung zu treffen. Der Vater wird in der Lage sein, diese Frage in Zusammenarbeit mit dem Jugendamt zum Wohl des Kindes zu klären. Aufgrund dieser Kooperationswilligkeit des Vaters kam es auch nicht in Frage, die elterliche Sorge oder Teile derselben beiden Eltern zu entziehen und auf das Jugendamt zu übertragen. Auch wenn der Vater zuletzt die Meinung vertreten hat, an sich könnte das Kind unmittelbar zu ihm überwechseln, hat er zugleich signalisiert, dass er sich der professionellen Beratung durch das Jugendamt nicht widersetzen wird.

Die für das Kind mit einem Verlassen des mütterlichen Haushalts zunächst verbunden psychischen Probleme hält der Senat für das kleinere Übel gegenüber einer fortschreitenden Entfremdung gegenüber dem Vater. Auch insoweit tritt der Senat der Auffassung der Sachverständigen bei.

Dass A bei ihrer Anhörung durch den Richter geäußert hat, sie wolle im Haushalt bei der Mutter bleiben, rechtfertigt keine andere Entscheidung. Nachdem die Entfremdung zum Vater durch das Verhindern von Besuchskontakten durch die Mutter fortgeschritten ist, kann das Kind gar nichts anderes äußern. Aus den dargelegten Gründen wäre es aber langfristig nicht im Interesse des Kindes, jetzt diesem Wunsch nachzugeben.

Eine Herausgabe des Kindes an den Vater war im Rahmen des Beschwerdeverfahrens nicht anzuordnen. Es kann dahinstehen, ob das Beschwerdegericht, nachdem Gegenstand des erstinstanzlichen Vaters allein die Regelung der elterlichen Sorge und nicht die Kindesherausgabe war, gleichwohl eine solche Entscheidung generell treffen kann. Vorliegend kommt insoweit dem Amtsgericht der Vorrang zu, da der Vater nach Erlass der amtsgerichtlichen Entscheidung beim Amtsgericht einen Herausgabeantrag gestellt hat, der dort zum Ruhen gebracht wurde, da der Vater zunächst die Entscheidung des Senats abwarten wollte (54 F 1159/04 Amtsgericht Darmstadt). Selbst wenn man grundsätzlich in derartigen Fällen eine Regelungsbefugnis des Beschwerdegerichts bejaht, kommt dem Amtsgericht als dem insoweit zunächst angerufenen Gericht nach dem Rechtsgedanken des § 4 FGG der Vorrang zu. Damit ist im Ergebnis einer schnelleren Klärung der Rechtslage hinsichtlich des Sorgerechts Rechnung getragen, da das Sorgerechtsverfahren mit dieser Entscheidung abgeschlossen werden kann und keine Äußerungsfrist zu dem erst am 01. April 2005 eingegangenen Herausgabeantrag des Vaters gesetzt werden müssen.

Vorsorglich weist der Senat die Mutter darauf hin, dass sie bereits aufgrund dieser Sorgerechtsregelung das Kind an den Vater bzw. auf dessen Weisung an Dritte herauszugeben hat.


OLG Frankfurt a.M. 19.04.2005 - 6 UF 155/04


Als Strafe für Verfahrensverschleppung: Kosten

Trägt ein Elternteil durch schuldhaftes Verletzen seiner Mitwirkungspflichten zu einer erheblichen Verzögerung des Umgangsverfahrens bei, können ihm gemäß § 81 Absatz II Nr. 4 FamFG die Kosten des Verfahrens vollständig auferlegt werden.

OLG Celle, Beschl. v. 12.12.2019 – 10 UF 266/19

Der Fall:
Nach der Trennung 2015 war der Umgang zwischen Tochter und Vater immer seltener geworden und kam 2018 ganz zum Erliegen. Im gerichtlichen Verfahren sollte ein Sachverständigengutachten aufklären, woran der Widerwille der Tochter liege.
Die Mutter verschleppte das Verfahren mit abgesagten Terminen, Verweigerung der Mitwirkung am Gutachten und Befangenheitsantrag.
Letztlich erreichte sie ihr Ziel, dass dauerhaft kein Umgang stattfand, indem der Vater ohne Gutachten nach einer Kindesanhörung aufgab. Er nahm den Antrag im September 2019 zurück.
Das FamG hat daraufhin die Kosten des Verfahrens der Antragsgegnerin auferlegt und dies damit begründet, die Antragsgegnerin habe ihre Mitwirkungspflicht im Verfahren dadurch verletzt, dass sie bei der Erstellung des Gutachtens nicht mitgewirkt habe, obwohl sie hierzu gemäß § 27 Absatz I FamFG verpflichtet gewesen sei. Die hiergegen erhobene Beschwerde hatte keinen Erfolg.


Ordnungsmittel: 30 Tage Haft für Mutter, die die Kindesherausgabe hartnäckig verhindet

Seit Jahren stritten Mutter und Vater über das Sorgerecht. Nachdem dies 2021 endgültig dem Vater übertragen worden war, verweigerte die Mutter die Kindesherausgabe.

Das Familiengericht gab dem Vater und dem Jugendamt alle rechtlichen Möglichkeiten an die Hand, die Herausgabe der 9jährigen Tochter durchzusetzen, es wurde sogar die Wohnung der Mutter vom Schlüsseldienst geöffnet und die Polizei hinzugezogen.

Die Mutter hatte – dies voraussehend - rund 15 Zeugen für diesen Termin organisiert, die alles mit Kameras aufzeichneten und zusammen mit ihr das Kind darin bestärkten, nicht freiwillig mitzugehen. Die Polizisten beschrieben die Situation als gestellt, manipulativ und darauf angelegt, dass es zu Handgreiflichkeiten komme. Eine unbeeinflusste Unterhaltung mit dem Kind sei den Polizisten oder Jugendamt-Mitarbeitern nicht möglich gewesen. Dieser Inobhutnahmeversuch wurde abgebrochen.

Anschließend hielten Mutter und Tochter sich monatelang bei verschiedenen Freunden und Verwandten auf, um nicht greifbar zu sein; die Tochter besuchte die Schule nicht.

Die Mutter musste beim Gerichtsvollzieher erscheinen, um Angaben zum Aufenthalt der Tochter zu machen, allerdings war auch das unergiebig.

Die Mutter schaffte es anderthalb Jahre lang, das Kind abzuschotten und die Herausgabe zu verweigern. Die Staatsanwaltschaft ermittelte wegen Kindesentziehung.


Das OLG hatte nun über Ordnungsmittel gegen die Mutter zu entscheiden. Dabei handelt es sich in der Regel um Ordnungsgeld in Höhe von einigen hundert Euro.

Hier aber griff das OLG direkt zu einem einschneidenderen Mittel: es ordnete 30 Tage Haft für die Mutter an. Ihre Hartnäckigkeit lasse vermuten, dass weder ein Geldbetrag noch eine kurze Ordnungshaft von wenigen Tagen seinen Zweck erreichen könne, dass sie ihren Widerstand gegen die Herausgabe aufgibt.



Die Mutter konnte sich nicht damit rechtfertigen, dass sie ärztliche Bescheinigungen einreichte, nach denen eine Herausgabe dem Kindeswohl widerspreche. Denn da sie kein Sorgerecht hatte, hätte sie das Kind gar nicht bei Ärzten untersuchen und behandeln lassen dürfen.


Hinweis: Gegen den Arzt, der wusste, dass die Mutter kein Sorgerecht hatte und der das Kind trotzdem behandelte, wurde berufsrechtlich und strafrechtlich vorgegangen.


OLG Celle, 31.01.2023 - 10 WF 135/22

 


Nur ein Sachverständiger kann den wirklichen Willen eines manipulierten Kindes erforschen

Zur - § 26 FamFG geschuldeten - Erforderlichkeit der Einholung eines Sachverständigengutachtens zur zuverlässigen Ermittlung des wahren Kindeswillens, wenn ein zehnjähriges Kind einen Umgang mit dem nicht betreuenden Elternteil verbal ablehnt.

In welchem Umfang vom Gericht zur Beurteilung des Kindeswohls Tatsachen zu ermitteln sind, bestimmt sich nach § 26 FamFG. Danach hat das Gericht von Amts wegen die zur Feststellung der entscheidungserheblichen Tatsachen erforderlichen Ermittlungen durchzuführen und die geeignet erscheinenden Beweise zu erheben. Zwar muss das Gericht nicht jeder nur denkbaren Möglichkeit nachgehen und besteht insbesondere keine Pflicht zu einer Amtsermittlung "ins Blaue hinein", weshalb bloße Verdachtsäußerungen, die jeglicher tatsächlichen Grundlage entbehren, keinen Ermittlungsanlass geben (dazu BGH FamRZ 2011, 1047). Eine Pflicht zu der Aufklärung dienlichen Ermittlungen besteht jedoch insoweit, als das Vorbringen der Beteiligten und der Sachverhalt als solcher bei sorgfältiger Prüfung hierzu Anlass geben. Die Ermittlungen sind erst dann abzuschließen, wenn von weiteren Ermittlungen ein sachdienliches, die Entscheidung beeinflussendes Ergebnis nicht mehr zu erwarten ist (BGH FamRZ 2010, 720), wobei in kindschaftsrechtlichen Familiensachen besondere Anforderungen an die tatrichterliche Sachaufklärung zu stellen sind.

Denn das Umgangsrecht eines Elternteils steht unter dem Schutz des Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG. Es ermöglicht dem umgangsberechtigten Elternteil, sich von dem körperlichen und geistigen Befinden des Kindes und seiner Entwicklung durch Augenschein und gegenseitige Absprache fortlaufend zu überzeugen, die verwandtschaftlichen Beziehungen zu ihm aufrechtzuerhalten und einer Entfremdung vorzubeugen, sowie dem Liebesbedürfnis beider Teile Rechnung zu tragen. Sowohl Sorge- als auch Umgangsrecht erwachsen aus dem natürlichen Elternrecht und der damit verbundenen Elternverantwortung und müssen von den Eltern im Verhältnis zueinander respektiert werden. Der Elternteil, bei dem sich das Kind gewöhnlich aufhält, muss demgemäß grundsätzlich den persönlichen Umgang des Kindes mit dem anderen Elternteil ermöglichen. Können sich die Eltern über die Ausübung des Umgangsrechts nicht einigen, haben die Gerichte eine Entscheidung zu treffen, die sowohl die beiderseitigen Grundrechtspositionen der Eltern als auch das Wohl des Kindes und dessen Individualität als Grundrechtsträger berücksichtigt. Die Gerichte müssen sich im Einzelfall um eine Konkordanz der verschiedenen Grundrechte bemühen. An die - einfachrechtlich auf § 1684 Abs. 4 BGB zu gründende - Einschränkung oder gar den Ausschluss des Umgangsrechts eines Elternteils sind strenge Maßstäbe anzulegen, deren Wahrung das Gericht von Amts wegen und wegen des stets letztentscheidenden Kindeswohls (vgl. BVerfGE 56, 363; BVerfG FuR 2008, 338) auch unabhängig von einem etwaigen Einvernehmen der Eltern (vgl. dazu BGH FamRZ 2012, 533) zu überprüfen hat. Eine Einschränkung des Umgangsrechts ist nur veranlasst, wenn nach den Umständen des Einzelfalls der Schutz des Kindes dies erfordert, um eine Gefährdung seiner seelischen oder körperlichen Entwicklung abzuwehren (vgl. zum Ganzen BVerfG FamRZ 2010, 1622; 2009, 399; BGH FamRZ 1994, 158; Senatsbeschluss vom 24. Januar 2011 - 6 UF 116/10 -, FamRZ 2011, 1409). Letzteres setzt eine gegenwärtige Gefahr in solchem Maße voraus, dass sich bei ihrem weiterem Fortschreiten eine erhebliche Schädigung der weiteren Entwicklung des Kindes mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt (BVerfG, Beschluss vom 28. Februar 2012 - 1 BvR 3116/11 -, juris; BVerfG FamRZ 2009, 1472; Senatsbeschlüsse vom 16. Februar 2010 - 6 UF 96/09 -, FamRZ 2010, 1746 m.w.N., und vom 29. Februar 2012 - 6 UF 13/12 -).

Diese verfassungsrechtliche Dimension von Art. 6 Abs. 2 GG beeinflusst auch das Verfahrensrecht und seine Handhabung im Kindschaftsverfahren. Das gerichtliche Verfahren muss in seiner Ausgestaltung geeignet und angemessen sein, um der Durchsetzung der materiellen Grundrechtspositionen wirkungsvoll zu dienen. Das bedeutet nicht nur, dass die Verfahrensgestaltung den Elternrechten Rechnung tragen muss. Vielmehr steht das Verfahrensrecht auch unter dem Primat des Kindeswohls, zu dessen Schutz der Staat im Rahmen seines Wächteramtes gemäß Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG verpflichtet ist. Deshalb muss das Gericht insbesondere die zur Verfügung stehenden Aufklärungs- und Prüfungsmöglichkeiten hinsichtlich entscheidungserheblicher Tatsachen ausschöpfen und sein Verfahren so gestalten, dass es möglichst zuverlässig die Grundlage einer am Kindeswohl orientierten Entscheidung erkennen kann (vgl. zum Ganzen BVerfG FamRZ 2010, 1622; 2009, 291, 399 und 1897; 2007, 105; BGH FF 2012, 67 m. Anm. Völker; BGH FamRZ 2010, 720). Zu diesem Zweck ist das Gericht nicht stets gehalten, sich sachverständig beraten zu lassen. Insbesondere bei Entscheidungen von großer Tragweite kann es allerdings erforderlich sein, ein psychologisches Sachverständigengutachten einzuholen, das etwa zu Qualität der Bindungen des Kindes zum umgangsberechtigten Elternteil, seinem wirklichen Willen und den in Betracht kommenden familiengerichtlichen Maßnahmen näheren Aufschluss geben kann (vgl. BVerfG FamRZ 2009, 1897; BGH FamRZ 2010, 1060).

Der genaue Umfang der erforderlichen Ermittlungen richtet sich nach den im konkreten Einzelfall betroffenen Kindeswohlbelangen (BGH FamRZ 2011, 796; 2010, 1060, jeweils m. Anm. Völker). Dazu gehört - bei der hier vorliegenden Problemstellung des Umgangsausschlusses wegen einer vom Kind verbal geäußerten Ablehnung von Umgangskontakten - jedenfalls die möglichst zuverlässige Feststellung des wahren Kindeswillens. Denn der vom Kind geäußerte Wille hat nicht nur Erkenntniswert hinsichtlich seiner persönlichen Bindungen auch zum Umgangsberechtigten (vgl. BVerfG FamRZ 2007, 1078; vgl. - zum Sorgerecht - auch BVerfG FamRZ 2008, 1737; BGH FamRZ 1990, 392), sondern ist mit zunehmendem Alter auch als Ausdruck der Entwicklung des Kindes zu einer eigenständigen Persönlichkeit bedeutsam (§ 1626 Abs. 2 S. 2 BGB; dazu BVerfG FamRZ 2007, 105; 2008, 845; vgl. ferner - zum Sorgerecht - BVerfG FamRZ 2008, 1737). Weil der Kindeswille nur insoweit zu berücksichtigen ist, als er dem Kindeswohl entspricht (BVerfG FamRZ 1981, 124; 2008, 1737), und in tatsächlicher Hinsicht in Rechnung zu stellen ist, dass ein durch einen Elternteil maßgeblich beeinflusster Kindeswille nicht beachtlich ist (vgl. BGH FamRZ 1985, 169; vgl. auch BVerfG FamRZ 2009, 399), muss das Kind im gerichtlichen Verfahren die Möglichkeit erhalten, seine wirklichen persönlichen Beziehungen zu den Eltern erkennbar werden zu lassen (vgl. BVerfG FamRZ 2010, 1622; 2009, 399 und 1897).

Worauf das Familiengericht seine - stillschweigende - Annahme stützt, über ausreichende kinderpsychologische Sachkunde zu verfügen, um bei diesen Gesamtumständen ohne sachverständige Beratung den zuverlässigen Schluss ziehen zu können, dass es dem wahren Willen von M. entspricht, keinerlei (!) Umgang mit seinem Vater zu haben, erhellt das angefochtene Erkenntnis nicht und ist auch sonst nicht nachvollziehbar. Allein dass M. sich - wie das Familiengericht ausführt - problemlos artikulieren, klar Stellung beziehen und seine Meinung zum Ausdruck bringen kann, einen ausgesprochen aufgeschlossenen, keineswegs verängstigten oder eingeschüchterten Eindruck macht und keinerlei Scheu vor der Anhörungssituation hat und bereitwillig über die mit dem Umgang in Zusammenhang stehenden Themenbereiche spricht, besagt nichts über den wirklichen Inhalt des von ihm geäußerten Willens. Dessen möglichst verlässliche Bewertung ist aber gerade bei Maßnahmen mit einer so hohen Eingriffsintensität, wie sie dem vom Familiengericht angeordneten langfristigen Umgangsausschluss innewohnt, dem Kindeswohl geschuldet.

Mithin kommt es nicht mehr darauf an, wie die Länge der vom Familiengericht angeordneten Ausschlussfrist von vierundzwanzig Monaten auf dem Boden des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes i.V.m. Art. 8 EMRK zu bewerten ist. Der Senat gibt vorsorglich für die weitere Behandlung der Sache zu bedenken, dass die nationalen Gerichte die Vorschriften der EMRK in der Ausprägung, die sie durch die Rechtsprechung des EGMR gefunden haben, im Rahmen methodisch vertretbarer Gesetzesauslegung zu beachten haben, und diese als Auslegungshilfen für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite von Grundrechten des Grundgesetzes dienen (vgl. BVerfGE 111, 307). Die Rechtsprechung des EGMR könnten darauf hindeuten, dass ein längerer Umgangsausschluss als ein Jahr eingehender Begründung bedarf und regelmäßig nur gerechtfertigt ist, wenn bereits im Ausgangsverfahren gutachterlich festgestellt wird, dass schon die mit einer kürzeren Ausschlussfrist verbundene früher mögliche Prüfung eines Umgangsbegehrens des Umgangsberechtigten selbst dem Kindeswohl schaden würde (vgl. EuGHMR FamRZ 2011, 1484 [Heidemann/Deutschland] m. Anm. Wendenburg; vgl. auch EuGHMR, Urteil vom 19.6.2003 - Individualbeschwerde Nr. 46165/99 [Nekvedavicius/Deutschland] -, n.v.).

Ebenso wenig bedarf schließlich der Vertiefung, dass das Familiengericht sich in seiner Entscheidung nicht ansatzweise zu milderen Maßnahmen verhalten hat, die bei den vorliegenden Gegebenheiten geeignet sein könnten, den Umgang zwischen Vater und M. wiederherzustellen. Insoweit wird das Familiengericht bei seiner erneuten Entscheidung insbesondere die Möglichkeit des Erlasses einer dem Konkretheitsgebot genügenden (dazu BGH FamRZ 2012, 533) Umgangsregelung, verbunden mit der Einrichtung einer Umgangspflegschaft nach § 1684 Abs. 3 S. 3 BGB zu wägen haben (vgl. dazu auch BVerfG, Beschluss vom 28. Februar 2012 - 1 BvR 3116/11 -, juris; BGH FF 2012, 67 m. Anm. Völker). Sollte es die Anordnung begleiteten Umgangs in Erwägung ziehen - auch hierauf ist das Familiengericht im angegriffenen Beschluss nicht gehaltvoll eingegangen -, wird es sich auch mit den diesbezüglichen Anforderungen nach Grund (vgl. dazu BVerfG FamRZ 2008, 494; BGHZ 51, 219; Senatsbeschluss vom 25. März 2010 - 6 UF 136/09 -, FamRZ 2010, 2085) und Ausgestaltung (dazu Senatsbeschluss a.a.O.; OLG Köln ZKJ 2011, 181) auseinandersetzen müssen.


Saarländisches OLG, Beschluss vom 03.04.2012 - 6 UF 10/12



Veröffentlichung von Dr. med. Wilfrid v. Boch-Galhau, Facharzt für psychotherapeutische Medizin und Nervenheilkunde, zum Thema PAS (Parental-Alienation-Syndrome) für scheidungsbegleitende Institutionen

In den letzten Jahren sehen wir in der psychiatrischen und psychotherapeutischen Praxis vermehrt sowohl erwachsene Scheidungskinder als auch betroffene Eltern, die durch Entfremdung und Kontakt-abbruch nach Trennung/Scheidung erheblich traumatisiert sind. Diese Menschen kommen häufig mit schweren psychischen und/oder psychosomatischen Beschwerden zur Beratung/ Behandlung.

Neuere Forschungen bezeichnen die Folge von induzierter Eltern-Kind-Entfremdung als "Pathological Alienation" , „Parental Alienation“ ,  „Parental Alienation Disorder“ , „Alienated Child“  oder „Parental Alienation Syndrome“. Den Begriff ‚“Parental Alienation Syndrome“ führte der in 2003 verstorbene amerikanische Kinderpsychiater Richard A. Gardner erstmals 1985  ein. Standardwerke zu PAS sind sein 1992 in 1. Auflage , 1998 in 2. Auflage  erschienenes Buch „The Parental Alienation Syndrome – a guide for mental health and legal professionals” und Gardner/Sauber/Lorandos (2006) “The International Handbook of Parental Alienation Syndrome” .

Beim Elterlichen Entfremdungssyndrom (Parental Alienation Syndrome/PAS) handelt es sich um einen speziellen Subtyp von Eltern-Kind-Entfremdung – vorwiegend – bei Trennungs- und Scheidungskonflikten i. S. einer induzierten kindlichen Folgestörung von schwer manipulativem (indoktrinierendem) Fehlverhalten von Eltern und/oder anderen wichtigen Bezugspersonen. Dabei lehnt das Kind irrational und ohne realen Grund jeden Kontakt zu einem zuvor geliebten und kompetenten Elternteil radikal ab.

R. A. Gardner definierte PAS wie folgt: „Das Syndrom Elternentfremdung (Parental Alienation Syndrome)“ ist eine Störung des Kindesalters, die fast ausschließlich im Zusammenhang mit Sorgerechtsstreitigkeiten auftritt. Die Störung äußert sich hauptsächlich in einer Ablehnungshaltung des Kindes gegenüber einem Elternteil, die in keiner Weise gerechtfertigt ist. Diese Haltung entsteht aus dem Zusammenwirken von Indoktrinierung durch einen programmierenden (eine Gehirnwäsche betreibenden) Elternteil und dem eigenen Beitrag des Kindes zur Verunglimpfung des zum Feindbild gewordenen anderen Elternteils. Im Fall von echtem Kindesmissbrauch und/oder Vernachlässigung kann die Feindseligkeit des Kindes begründet sein; in diesem Fall darf das Parental Alienation Syndrome als Erklärung für die feindliche Haltung des Kindes nicht herangezogen werden.“

Das Konzept „Parental Alienation Syndrome“ wird also durch drei Elemente definiert:  

a)    Ablehnung oder Verunglimpfung eines Elternteils, die das Ausmaß einer Kampagne erreichen, d. h. andauernd und nicht nur als gelegentliche Episode.
b)    Die feindselige Ablehnungshaltung ist irrational, d.h. die Entfremdung ist nicht eine angemes-sene Reaktion auf das Verhalten des abgelehnten Elternteils und beruht nicht auf tatsächlich gemachten negativen Erfahrungen mit dem zurückgewiesenen Elternteil.
c)    Sie ist Teilresultat des Einflusses des entfremdenden Elternteils [und/oder anderer wichtiger Bezugspersonen].

Wenn eines dieser drei Elemente fehlt, kann nicht von PAS gesprochen werden.

Bei PAS – vor allem bei der mittelschweren (moderate) und schweren (severe) Form – lässt sich ein Komplex von acht Hauptsymptomen im Verhalten des Kindes identifizieren (bei der leichten – mild – Form sind ggf. nicht alle vorhanden). Diese können in Stärke und Ausprägung variieren, was für die Art der notwendigen rechtlichen und psychologischen Interventionen von Bedeutung ist:

1. Unbegründete Zurückweisungs- und Verunglimpfungskampagne
2. Absurde Rationalisierungen
3. Fehlen von normaler Ambivalenz
4. Reflexartige Parteinahme für den programmierenden Elternteil
5. Ausweitung der Feindseligkeit auf die gesamte Familie und das Umfeld des zurück-
    gewiesenen Elternteils
6. Das Phänomen der „eigenen Meinung“
7. Verleugnung von Schuldgefühlen über die Grausamkeit gegenüber dem entfremdeten Elternteil
8. Übernahme „geborgter Szenarien“

Die Diagnose und der Schweregrad des PAS werden anhand des kindlichen Verhaltens festgestellt und nicht aufgrund des Ausmaßes der Manipulation, der das Kind ausgesetzt ist. Eine sorgfältige Diagnostik des gesamten Familiensystems und die Identifizierung der manipulierenden Person(en) sind unabdingbar. Auch die Rolle des sog. entfremdeten Elternteils und ggf. dessen Anteile am Entfremdungsprozess müssen sehr genau abgeklärt werden, um Fehldiagnosen zu vermeiden.

PAS ist nicht „Umgangsvereitelung“ oder „jedwede Art von Kontaktverweigerung und/oder Entfremdung“ eines Kindes gegenüber dem außerhalb lebenden Elternteil bei Trennung/Scheidung – wie viele meinen –, sondern eine psychiatrisch relevante kindliche Störung aufgrund einer psychischen Traumatisierung. Im Unterschied zu anderen, z. B. psycho-dynamischen Erklärungsversuchen von kindlicher Kontaktverweigerung liegt bei PAS regelmäßig eine massive Umgangsbehinderung/-vereitelung und/oder Manipulation/Indoktrination des Kindes vor. Die aktive Manipulation erfolgt – bewusst oder unbewusst – durch den hauptsächlich betreuenden Elternteil und/oder andere wichtige Bezugspersonen (nicht geschlechtsspezifisch!), von denen das Kind abhängig ist.

Bei den manipulierenden Bezugspersonen lassen sich häufig psychische Auffälligkeiten identifizieren, z. B. schwere narzisstische und/oder Borderline-Persönlichkeitsstörungen, traumatische Kindheitserfahrungen, paranoide Verarbeitung der Scheidungskrise und/oder Psychosen. Auch Einstellung und Verhalten professioneller Scheidungsbegleiter spielen im weiteren Verlauf von Entfremdungsprozessen eine wichtige Rolle.


Wichtige Entfremdungstechniken bei der Induktion von PAS sind u. a. Abwertung, realitätsverzerrende Negativdarstellung des anderen Elternteils, Umgangsboykott, Kontaktunterbrechung, gezielte Fehlinformationen, suggestive Beeinflussung und/oder Vermittlung von verirrenden Doppel-botschaften. Bisweilen wird direkte psychische (z.B. Androhung von Liebesentzug und/oder Suizid) und körperliche Gewalt (z. B. Schläge, Einsperren) gegen die Kinder eingesetzt. Der ohnehin bestehende Loyalitätskonflikt des Kindes wird verschärft. Angst, Abhängigkeit und Identifikation mit dem Entfremder spielen bei der Entstehung der kindlichen Symptomatik eine wichtige Rolle. Eine verwandte Psychodynamik findet sich beim Stockholm-Syndrom bei Geiselnahmen oder auch bei Sektensystemen. Manche Fälle von PAS der hochgradigen Form zeigen in ihrer Dynamik Gemeinsamkeiten mit dem „Münchhausen-by-Proxy-Syndrom“, einer schweren kindlichen Störung, bei der Eltern an ihren Kindern Krankheitssymptome vortäuschen bzw. künstlich erzeugen. Die betroffenen Kinder sind auf Hilfe von außen angewiesen.

Um PAS-betroffenen Kindern durch geeignete präventive und interventionelle Maßnahmen besser helfen zu können, wird von zahlreichen internationalen Fachleuten eine Aufnahme der Diagnose „Parental Alienation Syndrome“ (oder „Parental Alienation Disorder“) im Sinne einer induzierten kindlichen Folgestörung von schwer manipulativem elterlichem Fehlverhalten bei Trennung und Scheidung in das DSM-5, der American Psychiatric Association für wünschenswert gehalten.

Bei PAS-Fällen wird die Diagnose durch scheidungsbegleitende Fachleute häufig nicht gestellt, die psychotraumatischen Folgen unter Umständen bagatellisiert und notwendige Interventionen unterbleiben - unter anderem mit dem Hinweis darauf, dass die Diagnose „Parental Alienation Syndrome (PAS)“ nicht im DSM(-IV) enthalten sei. Die entfremdungsmanipulierten Kinder werden oft jahrelang in einem pathologischen Umfeld sich selbst überlassen mit erheblichen Risiken für ihre psychologische Entwicklung und Gesundheit. 


Es bleibt abzuwarten, ob bis zum Abschluss der Vorbereitungen zum DSM-5 genügende klinische Forschungsergebnisse vorliegen, um offene Fragen zu Gültigkeit und Verlässlichkeit der Diagnose PAS, zu Langzeitwirkungen der PAS-Induktion beim Scheidungskind und zur Wirksamkeit effektiver Interventionen bei den verschiedenen Schweregraden dieser speziellen kindlichen Störung weiter zu klären. Verschiedene bisherige Studien weisen darauf hin, dass mittlere bis schwere Entfremdungsszenarien, neben direktiven psychotherapeutischen Vorgehensweisen, vor allem strukturelle Interventionen in Form von gerichtlich angeordneten Sorge-, Umgangs- und Aufenthaltsregelungen erforderlich machen, um den Zugang des Kindes zu beiden Eltern zu schützen (z. B. Lampel, 1986 ; Clawar & Rivlin, 1991 ; Dunne & Hedrick, 1994 ; Gardner, 2001 ; Kopetski, Rand & Rand, 2005 ).

Eine wichtige klinische Forschungsaufgabe scheint zu sein, zu klären, wie weit Zusammenhänge zwischen der Induktion von PAS beim Scheidungskind und späteren Borderline-, Persönlichkeits- oder anderen Trauma-Folgestörungen im Erwachsenenalter sowie eine transgenerationale Weitergabe entsprechend pathologischer Verhaltensmuster bestehen. Des Weiteren, ob und welche Psychopathologie sich bei schwer entfremdenden Eltern nachweisen lässt, welche Rolle evtl. der sog. entfremdete Elternteil und ggf. auch beteiligte Fachprofessionen im Entfremdungsprozess spielen. Es bleibt zu hoffen, dass die erhebliche Konfusion zur Begrifflichkeit von Parental Alienation und Parental Alienation Syndrome/Parental Alienation Disorder beendet werden kann, um pathologisch entfremdeten Scheidungskindern und ihren Familien in der Praxis besser als bisher zu helfen.


Weitere Informationen zu Eltern-Kind-Entfremdung und zum
Parental Alienation Syndrome (PAS)/Syndrome d’Aliénation Parentale (SAP)

1.    Ein Überblick über die internationale wissenschaftliche Literatur zu Eltern-Kind-Entfremdung und PAS fin¬det sich unter: http://home.att.net/~rawars/pasarticles.html und www.beideeltern.de/paslit.php.

Die internationale Fachliteratur weist inzwischen mehr als 600 wissenschaftlich relevante Publikationen aus mehr als 30 Ländern und 6 Kontinenten zum Thema Parental Alienation und Parental Alienation Syndrome auf (s. Bernet, W. et al.: "Parental Alienation, DSM-5 and ICD 11" in American Journal of Family Therapy, 38: 76 – 187, 2010. Siehe dort speziell "Referen¬ces", S. 143 – 182, http://dx.doi.org/10.1080/01926180903586583).

2.    Im Juli 2006 erschien: Gardner/Sauber/Lorandos “International Handbook of Parental Alienation Syndrome: Conceptual, Clinical and Legal Considerations” im Charles C. Thomas Publisher Ltd., Springfield, Illinois. Es ist ein qualitativ sehr bemerkenswertes und umfassendes Lehrbuch für interessierte Fachleute der verschiedenen scheidungs¬begleitenden Professionen. In diesem Handbuch stellen 32 Experten aus 8 Ländern die heutigen wissenschaftlichen Erkenntnisse zum Parental Alienation Syndrome und zu den damit zusammenhängenden Fragestellungen in Theorie und Praxis vor.

3.    In 2007 erschien zum Thema Parental Alienation Syndrome das sehr informative Fachbuch des engli¬schen, klinischen und forensischen Psychologen L. F. Lowenstein „Parental Alienation – How to Understand and Address Parental Alienation Resulting from Acrimonious Divorce or Separation“ bei Russell House Publishing, Lyme Regis Dorset, www.russellhouse.co.uk. Auf dem Hintergrund der internationalen Forschung beschäftigt sich dieses Buch mit den Problemen und den Folgen bei PAS-betroffenen Kindern und bei von Entfremdung und Kontaktabbruch betroffenen Eltern. Ausführlich wird die Rolle der juristischen Fachprofessionen behandelt und detailliert auf therapeutische Interventio¬nen bei PAS eingegangen. Lowenstein erläutert in einem eigenen Kapitel dieses Buches das Stockholm-Syndrom im Zusammenhang mit dem bekannten österreichischen „Entführungsfall Natascha Kampusch“ und zeigt die Verwandtschaft zum Parental Alienation Syndrome (PAS) auf.

4.    Ein wissenschaftlich guter Überblick über die Kontroversen im Zusammenhang mit PAS findet sich in Warshak, R. A.: „Eltern-Kind-Entfremdung und Sozialwissenschaften – Sachlichkeit statt Polemik, Zentralblatt für Jugendrecht (ZfJ), 92 (5) 2005, 186 – 200 (Amerik. Text: „Social Science and Parental Alienation: Examining the Disputes and the Evidence“, in: Gardner, Sauber & Lorandos, 2006, The International Handbook of Parental Alienation Syndrome, S. 352 - 371). Diese Publikation ist eine Aktualisierung seines Artikels: "Bringing Sense to Parental Alienation: A Look at the Disputes and the Evidence" in Family Law Quarterly 2003, 37 (2): 273 - 301.

Professor Warshak stellt in dieser Arbeit den gegenwärtigen Stand der Forschung zu PAS vor. Er geht ausführlich auf die bekannten Kritikpunkte ein und gibt in der Darstellung des PAS-Konzeptes zahlreiche Anregungen für die weitere wissenschaftliche Forschung. Außer dem Konzept „Parental Alienation Syndrome“ (R. A. Gardner) beschäftigt er sich darin auch mit dem von Kelly und Johnston (2001) entwickelten alternativen Konzept „Das entfremdete Kind“. Auch nimmt er in die-ser Arbeit zu speziellen Kontroversen um PAS Stellung, u. a. zu dem äußerst fragwürdigen Artikel von C. S. Bruch, „Parental Alienation Syndrome und Parental Alienation: Wie man sich in Sorgerechtsfällen irren kann“ (FamRZ 2002, 49 (19): 304 – 315/amerik. Originaltitel: Parental Alienation Syndrome: Getting it Wrong in Child Custody Cases. Family Law Quarterly 35 (3) 2001: 527 – 552), der trotz vernichtender Kritik durch namhafte internationale Fachleute, z. B. in Deutschland immer noch zur Bagatellisierung des Problems der induzierten Eltern-Kind-Entfremdung angeführt wird.


(...) Es folgen weitere Literaturhinweise, die 2020 nicht mehr aktuell sind


23.    Am 20. Juli 2006 fällte der Europ. Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg in dem Familienrechtsfall Koudelka ./. Tschechische Republik (App.-No. 1633/05) eine aufsehenerregende Entscheidung wegen Verletzung des Artikels 8 der Europ. Menschenrechtskonvention. In den Paragraphen 35, 39 und 62 wird der Begriff "Syndrome d'Aliénation Parentale" ausdrücklich benannt, was u. E. eine juristische Anerkennung des PAS-Phänomens durch dieses hohe übernationale Gericht bedeutet. Das Urteil findet sich (in französischer Sprache) auf der Webseite des EGMR (http://www.echr.coe.int/ECHR/EN/Header/Case-Law/HUDOC/HUDOC+database/ List of recent judgements – Search – French als Sprache auswählen - application number eingeben). Die Presseerklärung (in Englisch) findet sich auch auf dieser Web-Seite. Ein ausführlicher Kommentar mit Teilübersetzung aus dem Französischen ins Deutsche findet sich auf der Web-Seite www.vaeterfuerkinder.de/Koudelka_Teil.htm.     


24.    Am 18. Januar 2007 fällte der Europ. Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg in dem Familienrechtsfall Zavrel ./. Tschechische Republik App.-Nr. 14044/05 eine weitere Entscheidung wegen Verletzung des Artikels 8 der Europ. Menschenrechtskonvention. Auch hier wird in den §§ 16, 24, 28, 45, 52 ausdrücklich auf das durch psychol. Expertise diagnostizierte "Syndrome d'Aliénation Parentale" verwiesen mit spezifischer Begründung besonders in den §§ 48, 50, 52 und 53. Das Urteil findet sich in französischer Sprache auf der Web-Seite des EGMR: http://www.echr.coe.int/ECHR/EN/Header/Case-Law/HUDOC/HUDOC+database/.


(...)


27.    In 2008 veröffentlichten die international hoch angesehenen kanadischen Autoren Fidler, B. (Psychologin), Bala, N. (Jurist), Birnbaum, R. (Sozialwissenschaftlerin) & Kavassalis, K. (Juristin) für scheidungsbegleitende Fachleute das Buch „Challenging Issues in Child Custody Disputes – A Guide for Legal and Mental Health Professionals“, Thomson, Carswell, Toronto, Canada. Diese Publikation gibt einen detaillierten wissenschaftlichen Überblick über die Themen Parental Alienation und Parental Alienation Syndrome. Die Kontroversen im Zusammenhang mit diesen Themen werden sachlich und verständlich unter Einbezug wesentlicher internationaler Fachliteratur dargestellt und es wird auch auf jüngere interdisziplinäre Interventionsmodelle bei schwerer Eltern-Kind-Entfremdung eingegangen (s. dazu auch unten Punkt 29).   

Wichtige Themen wie „Umgangs- und Aufenthaltsmodelle“, „Häusliche Gewalt“ und „Vorwürfe sexueller Gewalt im Zusammenhang mit Sorgerechtsauseinandersetzungen“ werden ebenfalls in je zwei ausführlichen Kapiteln auf wissenschaftlich hohem Niveau behandelt. Dieses Buch möchten wir sehr empfehlen.   



28.    Eine internationale Arbeitsgruppe aus mehr als 70 Psychiatern, Kinderpsychiatern, Psychologen, Sozialarbeitern und Juristen, Praktikern und Wissenschaftlern, aus 13 Ländern erarbeitete für die American Psychiatric Association (APA) und die Weltgesundheitsorganisation (WHO) einen Vorschlag zur Aufnahme von "Parental Alienation Disorder" in die Diagnosesysteme DSM-5 und ICD-11, der den entsprechenden wissenschaftlichen Komitees seit Ende 2009 zur Entschei-dung vorliegt (siehe: Bernet, W. et al.: "Parental Alienation, DSM-5 and ICD 11" in American Journal of Family Therapy, 38: 76 – 187, 2010. http://dx.doi.org/10.1080/01926180903586583) Eine erweiterte Fassung dieses Textes als Buch ist im Oktober 2010 erschienen: Bernet, W. (2010). Parental Alienation, DSM-5, and ICD-11. Charles C. Thomas Publis¬her Ltd., Springfield, Illinois, http://www.ccthomas.com/details.cfm?P_ISBN13=9780398079444.     

29.    Die renommierte Fachzeitschrift Family Court Review (s. Family Court Review, Vol. 48, Issue 1 (Jan. 2010), s. http://www3.interscience.wiley.com/journal/118499535/home) veröffentlichte im Januar 2010 auf über 200 Seiten Arbeiten hoch angesehener amerikanischer und kanadischer Wissenschaftler und Praktiker zum Thema „Entfremdete Scheidungskinder“, die verschiedene Aspekte der wissen¬schaftlichen Diskussion zu diesem Thema beleuchten und auch fundierte Interventionsmodelle (z. B. von R. A. Warshak ,  ; R. A. Warshak & M. R. Otis  und von J. Sullivan, P. A. Ward & R. M. Deutsch ) bei Fällen von schwerer Eltern-Kind-Entfremdung vorstellen. Diese psychologischen Programme, die auch für Deutschland von Interesse sein könnten, versuchen, hochgradig entfremdeten Scheidungskindern ihre verlorene Beziehung zu einem Elternteil und ihre verlorene Identität wieder aufzubauen und zeigen, dass bei Eltern-Kind-Entfremdung in Hochkonfliktfällen – entgegen der verbreiteten landläufigen Meinung - durchaus etwas getan werden kann.   

30.    Nach etwa einem Dutzend internationaler Fachkongresse zum Thema Parental Alienation und Parental Alienation Syndrome in Europa, Süd- und Nordamerika, Kanada zwischen 2002 und 2011 (als Beispiele seien genannt: www.pas-konferenz.de; www.cspas.ca; www.congresointernacionalsap.org;) widmete sich die renommierte, amerikanische Association of Family and Conciliation Courts (AFCC) auf ihrer 47. Jahrestagung (2. bis 5. Juni 2010 in Denver, Colorado) in über 80 Vorträgen und Workshops ganz dem Thema Eltern-Kind-Entfremdung. Alle wesentlichen Aspekte und Kontroversen zu diesem Thema wurden auf dieser Konferenz behandelt und verschiedene Interventionsmodelle vorgestellt (siehe www.afccnet.org).


Dr. med. W. v. Boch-Galhau             
Dipl.-Psych. U. Kodjoe               

Dr. phil. W. Andritzky             

Dr. iur. P. Koeppel

www.drvboch.de; www.pas-kon ferenz.de   

www.ursula-kodjoe.net   

www.andritzky-online.de   

www.koeppel-kindschaftsrecht.de





Lesbisches unverheiratetes Mütterpaar:

Ablehnung von Umgang durch die Mutter genügt zur Ausgrenzung der Co-Mutter

Zwei Frauen liebten sich zehn Jahre lang und setzten ihren gemeinsamen Kinderwunsch so um, dass eine der beiden künstlich befruchtet wurde und das Kind austrug. Eigentlich sollte die zweite Frau das zweite Kind gebären, aber sie entschieden sich dann um, wieder wurde die erste Frau befruchtet. Die zweite Frau nahm die Rolle der Co-Mutter ein, von der Begleitung bei den Geburten bis hin zur alltäglichen Fürsorge für die Kinder. Die Kinder nannten die eine „Mama“, die andere „Mom“.


Rechtlich gab es zwischen der zweiten Frau und den Kindern aber kein Band, die Frauen heirateten auch nicht. Das rächte sich bei Trennung, denn die nicht-leibliche „Mom“ wurde aus der Familie ausgegrenzt und musste sich Umgangskontakte gerichtlich erstreiten. Die Kinder waren nach entsprechender Beeinflussung durch die "Mama" nicht bereit, sich auf ein Treffen mit der „Mom“ einzulassen. Jugendamt und Verfahrensbeiständin sahen einen Loyalitätskonflikt bei den Kindern und empfahlen eine professionelle Umgangsbegleitung zur Abarbeitung.


Amtsgericht Freiburg und OLG Karlsruhe jedoch halfen der „Mom“ nicht. Aus Rechtsgründen war die „Mom“ ja nur eine „sonstige Bezugsperson“, kein Elternteil, so dass die „Kindeswohldienlichkeit“ des Umgangs positiv vom Gericht hätte festgestellt werden müssen. Obwohl das Gericht den von der „Mama“ initiiierten Beziehungsabbruch nicht guthieß und ihre Kritik am Erziehungsstil der „Mom“ nicht mittrug, kam sie damit im Ergebnis durch.


Das Gericht war davon überzeugt, dass die "Mama" Umgänge nicht nur in diesem Verfahren ablehnt, sondern auch im Falle der gerichtlichen Anordnung von Umgangskontakten alles daran setzen wird, diese zu verhindern.

"Welche positiven Auswirkungen Umgangskontakte für die Kinder haben könnten, vermag sie nicht zu erkennen. Ihre Aufgabe sieht sie darin, die Kinder vor Zusammentreffen mit der Antragstellerin zu schützen. Es steht daher konkret zu befürchten, dass die Antragsgegnerin selbst im Falle der Anordnung professionell begleiteter Umgänge hieran nicht nur nicht mitwirken, sondern die Kinder in ihrer ablehnenden Haltung weiter bestärken würde. Die für die Kinder wichtige Aufarbeitung der Trennung würde unter diesen Umständen gerade nicht erfolgen können. Sie setzt vielmehr voraus, dass die Antragsgegnerin Umgänge jedenfalls bis zu einem gewissen Grad mitträgt und unterstützt. Sie hiervon zu überzeugen, ist nicht gelungen.

Unter diesen Umständen erscheint die gerichtliche Anordnung von Umgangskontakten trotz der bestehenden tragfähigen Bindung der Kinder zur Antragstellerin dem Kindeswohl nicht dienlich. Es wäre zu erwarten, dass der aus der ablehnenden Haltung der Antragsgegnerin resultierende Loyalitätskonflikt im Falle der Anordnung von Umgangskontakten durch die Kinder nicht aufgearbeitet, sondern sich durch die tatsächliche Umsetzung erzwungener Umgangskontakte weiter verschärfen würde. Das Gericht verkennt nicht, dass allein der entgegenstehende Wille der Antragsgegnerin nicht ausreicht, um der Antragstellerin den Umgang mit den Kindern zu verwehren (OLG Braunschweig vom 05.10.2020 - 2 UF 185/19, juris Rn. 40). Anders liegt es aber, wenn - wie hier - das Kind wegen seiner bestehenden Zuneigung in einen es schwer belastenden Loyalitätskonflikt gerät (OLG Braunschweig vom 05.10.2020 - 2 UF 185/19, juris Rn. 41).

Das Gericht sieht aufgrund der Vehemenz der Ablehnung der Antragsgegnerin keine Möglichkeit, sie durch eine Wohlverhaltensanordnung gemäß § 1685 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 1684 Abs. 3 Satz 2 BGB zur Unterstützung von Umgangskontakten anzuhalten. Erreicht werden könnte hierdurch allenfalls eine äußerliche Mitwirkung, die aber nicht geeignet wäre, den bestehenden Loyalitätskonflikt aufzulösen. Die Anordnung einer Umgangsbegleitung gemäß § 1685 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 1684 Abs. 4 Satz 3 BGB wäre im Übrigen nicht geeignet, eine Akzeptanz und Kindeswohldienlichkeit der Umgänge zu erreichen. Im Anhörungstermin vom 23.06.2022 wurde deutlich ersichtlich, dass die Antragsgegnerin ihre Familie und ihre Beziehung zu ihren Kindern durch jegliche Kontakte bedroht sieht und sich auch auf professionell begleitete Umgänge daher nicht einlassen kann.

Dies gilt auch für die Anordnung einer Umgangspflegschaft gemäß § 1685 Abs. 3 Satz 2 i.V.m. § 1684 Abs. 3 Satz 3 bis 5 BGB . Das Gericht vermag nicht festzustellen, dass durch die Einrichtung einer Umgangspflegschaft Umgangskontakte ohne erhebliche Belastungen für die Kinder tatsächlich umgesetzt werden könnten. Auch im Falle der Anordnung einer Umgangspflegschaft fehlt es daher an der für die Anordnung von Umgängen erforderlichen der Kindeswohldienlichkeit.

Auf das Vorliegen der für die Anordnung einer Umgangspflegschaft gemäß § 1685 Abs. 3 Satz 2 BGB außerdem erforderlichen Kindeswohlgefährdung kommt es somit nicht entscheidend an. Es kann daher offen bleiben, ob die insbesondere bei ... bestehenden Problematik der unzureichenden Aufarbeitung der Trennung und des Bindungsabbruchs ein solches Maß erreicht, dass sich hieraus eine Gefahr für seine Entwicklung ergeben kann."



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