Vom Mythos um die ehelichen Pflichten
Wenn meine Scheidungsmandanten (w/m/d) mir ihre Trennungsgeschichte erzählen, dann haben sie oft auch das Bedürfnis, mich wissen zu lassen, wann man aufhörte, Sex zu haben.
Warum finden sie diese Information für mich wichtig? So als ob das retrospektiv als Beginn des Trennungsjahres zu werten sei. Oder als ob man das als eine eheliche Verfehlung bewerten könnte, an der natürlich die Gegenseite so schuldig ist, dass man sich davon Rechtsfolgen erhofft: schnellere Scheidung? Kein Unterhalt?
Spielt Sex im Scheidungsrecht eine Rolle?
Ich hatte tatsächlich mal ein vergilbtes Scheidungsurteil in Händen, in dem einem Vater das Sorge- und Umgangsrecht entzogen wurde, weil er von seiner Ehefrau beim Masturbieren erwischt worden war. Und in der Tat wurde er deshalb "schuldig geschieden". Das muss ein Urteil aus der Zeit vor 1977 gewesen sein, denn in diesem Jahr hat sich das deutsche Familienrecht vom Verschuldensprinzip verabschiedet. Heutzutage gilt das Zerrüttungsprinzip und damit die Hypothese, dass wohl beide in gleicher Weise daran mitgewirkt hatten. Der Familienrichter will nicht mehr wissen, wer die Henne war und wer das Ei. Und er will keine Bettgeschichten hören.
Anders in Frankreich. Da gibt es noch die Frage nach der Schuld, und die trug nach Auffassung des französischen Berufungsgerichts die Frau, weil sie ihrem Ehemann Geschlechtsverkehr verweigert hatte.
Durch die anhaltende Weigerung, mit ihrem Ehepartner geschlechtlich zu verkehren, habe die Beschwerdeführerin eine schwerwiegende und wiederholte Verletzung ihrer ehelichen Pflichten begangen, die nicht gerechtfertigt werden könne, und die es unzumutbar mache, die eheliche Gemeinschaft aufrechtzuerhalten. Die Revision der Beschwerdeführerin gegen diese Entscheidung wurde vom Kassationshof zurückgewiesen.
Nach französischem Recht folgen dem Schuldspruch finanzielle Nachteile, angefangen von dem Verlust von Ausgleichsansprüchen bis hin zu einem Schadenersatzanspruch des Mannes.
Damit ging die Ehefrau zum Europäischen Menschenrechtsgerichtshof.
Vor dem EuGHMR rügte sie eine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 8 EMRK.
Dort bekam sie einstimmig Recht.
Die Annahme einer ehelichen Pflicht zum Beischlaf beeinträchtige die Beschwerdeführerin in ihrem Recht auf Privatsphäre, ihrem Recht auf sexuelle Selbstbestimmung und ihrem Recht auf körperliche Autonomie. Zudem habe die Feststellung des Berufungsgerichts, die Weigerung zum Sexualverkehr sei eine schwerwiegende und wiederholte Verletzung (violation grave et renouvelée) ehelicher Pflichten, einen besonders stigmatisierenden Charakter.
Die Annahme einer ehelichen Pflicht zum Geschlechtsverkehr stehe im Konflikt mit der vom EU-Gerichtshof angewandten Definition von sexueller Gewalt, denn jeder nicht einvernehmliche sexuelle Kontakt stellt eine Form sexualisierter Gewalt dar. Auch innerhalb der Ehe.
Damit müssen auch deutsche Juristen, die die Ansicht vertreten, jedenfalls verschiedengeschlechtliche Eheleute seien einander zur Geschlechtsgemeinschaft verpflichtet, wenn sie keine gesundheitliche oder psychische Entschuldigung haben, dies überdenken.
EuGHMR Urt. v. 23.1.2025 – Beschwerde Nr. 13805/21