Wer eine "Erwerbsobliegenheit" hat, aber keine Arbeit, der muss sich Arbeit suchen - und zwar mit demselben zeitlichen Aufwand, wie er arbeiten müsste (d.h. z.B. 35 Stunden wöchentlich mit der Suche verbringen und das dokumentieren). Wer den Richter nicht überzeugen kann, dass seine Erwerbslosigkeit nicht an ihm liegt, dem kann - egal ob Pflichtiger oder Bedürftiger - ein Einkommen unterstellt werden, das sog. fiktive Einkommen. Auf den Satz "Ich bin beim Arbeitsamt gemeldet und frage da regelmäßig nach", gilt die Antwort, dass mehr Eigeninitiative erwartet wird.
Das Gericht darf aber auch nichts Unmögliches verlangen, Bundesverfassungsgericht, Beschluss v. 9.11.2020 – 1 BvR 697/20. Der BGH nennt das "reale Beschäftigungschance".
a) Für die Feststellung, dass für einen Unterhaltsschuldner keine reale Beschäftigungschance bestehe, sind insbesondere im Bereich der gesteigerten Unterhaltspflicht nach § 1603 Abs. 2 BGB strenge Maßstäbe anzulegen.
b) Dass der Unterhaltspflichtige aus dem Ausland stammt und über keine abgeschlossene Berufsausbildung verfügt, rechtfertigt allein noch nicht die Schlussfolgerung, dass für ihn keine reale Beschäftigungschance im Hinblick auf eine sozialversicherungspflichtige Vollzeitstelle bestehe.
BGH, Beschluss vom 22. Januar 2014 - XII ZB 185/12
Der Antragsgegner ist türkischer Staatsangehöriger kurdischer Herkunft. Er ist im Jahr 2001 nach Deutschland gekommen. Er verfügt über einen Realschulabschluss, aber keine abgeschlossene Berufsausbildung. Es geht um Unterhalt für sein minderjähriges Kind.
Aus dem Urteil: „Für gesunde Arbeitnehmer im mittleren Erwerbsalter wird auch in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit regelmäßig kein Erfahrungssatz dahin gebildet werden können, dass sie nicht in eine vollschichtige Tätigkeit zu vermitteln seien. Dies gilt auch für ungelernte Kräfte oder für Ausländer mit eingeschränkten deutschen Sprachkenntnissen. Auch die bisherige Tätigkeit des Unterhaltsschuldners etwa im Rahmen von Zeitarbeitsverhältnissen ist noch kein hinreichendes Indiz dafür, dass es ihm nicht gelingen kann, eine besser bezahlte Stelle zu finden. Das gilt auch dann, wenn der Unterhaltspflichtige überwiegend im Rahmen von geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen im Sinne von § 8 Abs. 1 SGB IV gearbeitet hat. Zu den insbesondere im Rahmen von § 1603 Abs. 2 BGB zu stellenden Anforderungen gehört es schließlich auch, dass der Unterhaltspflichtige sich um eine Verbesserung seiner deutschen Sprachkenntnisse bemüht. Mangels eines entsprechenden Erfahrungssatzes erscheint es vielmehr nicht ausgeschlossen, dass der Antragsgegner eine Vollzeitstelle erlangen kann. Auch die bisherige Tätigkeit in geringfügiger Beschäftigung steht dem nicht entgegen. Etwa unzureichende Sprachkenntnisse können den Antragsgegner nicht mehr ohne weiteres entlasten, nachdem seine Unterhaltspflicht mit der Geburt des Antragstellers bereits 2004 einsetzte. Dass der Antragsgegner, wie es in der angefochtenen Entscheidung ausgeführt ist, bemüht ist, sich fortzubilden und eine Ausbildung zu absolvieren, um seinem Kind in der Zukunft einmal Unterhalt zahlen zu können, genügt schließlich nicht.“
"Der Beweis, dass für den Antragsgegner keine reale Erwerbsmöglichkeit für eine Vollzeittätigkeit bestehe, wird unter den Umständen des vorliegenden Falls mangels gegenteiliger Erfahrungssätze nur durch den Nachweis zu führen sein, dass der Antragsgegner sich hinreichend um eine Erwerbstätigkeit bemüht hat. Hierzu reicht es nicht aus, dass der Antragsgegner sich auf die ihm vom zuständigen Jobcenter unterbreiteten Stellenangebote beworben hat. Dass der Antragsgegner ein höheres Einkommen als das vom Oberlandesgericht angenommene (7,30 € pro Stunde) erzielen kann, ergibt sich schon aus seiner Beschwerdebegründung, nach welcher er bereits 2010/2011 in einem befristeten Vollzeitarbeitsverhältnis bei einem Zeitarbeitsunternehmen stand, aus dem er einen Stundenlohn von 7,60 € erzielte.
Sollte dem Antragsgegner der entsprechende Nachweis nicht gelingen, so wird bei einem für den Mindestunterhalt (auch im Hinblick auf das 2008 geborene weitere Kind des Antragsgegners) weiterhin unzureichenden Einkommen zu prüfen sein, ob und inwiefern dem Antragsgegner eine zusätzliche Nebentätigkeit zumutbar ist. Auch wenn der Unterhalt aufgrund eines wegen Verletzung der Erwerbsobliegenheit lediglich fiktiven Einkommens festzusetzen ist, trifft den Antragsgegner eine Obliegenheit zur Ausübung einer Nebentätigkeit im selben Umfang wie einen seine Erwerbsobliegenheit erfüllenden Unterhaltsschuldner."
BGH 9.11.2016 - XII ZB 227/15:
Volle Erwerbsminderungsrente wird zugesprochen, wenn man weniger als 3 Stunden täglich arbeiten kann, § 43 Abs. 2 S.2 SGB VI. Dass man auch diese 3 Stunden nicht arbeiten kann, ist im Unterhaltsverfahren zusätzlich darzulegen und zu beweisen.
Aus dem Bezug von Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII - Grundsicherung bei Erwerbsminderung - ergibt sich nicht die vollständige Unfähigkeit zur Erzielung eigener Einkünfte. Der Unterhaltsberechtigte hat vielmehr darzulegen und zu beweisen, dass es nicht einmal in der Lage ist, weniger als drei Stunden pro Tag zu arbeiten.
Entschieden für ein volljähriges Kind von OLG Frankfurt a. M. - Beschl. v. 2.10.2019 – 4 UF 209/18
Auch ein Unterhaltsschuldner, der eine sozialrechtliche Erwerbsunfähigkeitsrente bezieht, muss darlegen, warum seine gesundheitlichen Beschränkungen einer Tätigkeit im Rahmen der verbleibenden Arbeitsfähigkeit entgegenstehen. Er muss die vor der Erkrankung ausgeübte Tätigkeit beschreiben, konkrete Angaben zu seinem Gesundheitszustand machen und ausführen, aus welchem Grunde dieser jeglicher Erwerbstätigkeit entgegenstehe. Allein die Angabe einer Diagnose (hier: Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, chronische Schmerzen und Depressionen) ist insoweit nicht ausreichend.
Entschieden für Minderjährigenunterhalt von OLG Köln, Beschluss vom 28.3.2019 – 10 UF 228/18
OLG Brandenburg: Den Mindestlohn kann jede ungelernte Kraft verdienen
Im Rahmen von Unterhaltsprozessen spielt das Mindestlohngesetz jetzt eine Rolle.
OLG Brandenburg, Beschl. v. 07.08.2014 – 9 UF 159/13:
"Es kann davon ausgegangen werden, dass eine zwar ungelernte, aber erfahrene Bürokraft mindestens ein Entgelt in Höhe des künftigen Mindestlohns von 8,50 € erzielen kann. Die Ehefrau befindet sich mit 47 Jahren im mittleren Erwerbsalter. Sie ist zwar – auch wenn sie eine Ausbildung als Bäckereifachverkäuferin abgeschlossen hat – als ungelernt anzusehen, da sie in dem Bereich, der aufgrund ihrer Situation für eine Erwerbstätigkeit in Betracht kommt, keine Ausbildung aufgenommen oder beendet hat.
Dass sie nicht als Bäckereifachverkäuferin arbeiten will, ist zu akzeptieren. Da sie aber über Berufserfahrung verfügt, kann sie nicht geltend machen, sie habe auf dem Arbeitsmarkt keine Chance. Auch in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit kann sie bei ausreichenden Bemühungen einen Arbeitsplatz finden. Ausgehend von einem künftigen Mindestlohn von 8,50 €, den eine zwar ungelernte, aber erfahrene Bürokraft erzielen kann, ist davon auszugehen, dass die Ehefrau jedenfalls monatlich brutto 1.470 € = netto 1.076 € (Steuerklasse I, 0,5 Kinderfreibetrag) verdienen könnte."
BVerfG: jedenfalls im VKH-Prüfverfahren dürfen 8,50€ nicht einfach unterstellt werden
Das Kammergericht Berlin zitiert in seinem Beschluss vom 25. Februar 2015 - Az. 13 WF 263/14 – eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 27. August 2014 zum Mindestlohn:
Zwar ist richtig, dass der Mindestlohn derzeit 8,50 € brutto/Stunde beträgt. Dafür, dass die Antragsgegnerin aber tatsächlich Zugang zu diesem Teil des Arbeitsmarktes hat, sind bislang keine Feststellungen getroffen. Insoweit ist vielmehr daran zu erinnern, dass das Bundesverfassungsgericht mit Kammerbeschluss vom 27. August 2014 (1 BvR 192/12, FamRZ 2014, 1977 [bei juris Rz. 22]) - allerdings für einen ungelernten Arbeiter, wohingegen die Antragsgegnerin IHK-geprüfte Fachgehilfin im Gastgewerbe ist - entschieden hat, dass ein Gericht, das ohne weitere Feststellungen zu der Auffassung gelangt, ein Bruttostundenlohn von 8,50 € sei erzielbar, den im Verfahrenskostenhilfebewilligungsverfahren eingeräumten Entscheidungsspielraum überschreite. Zur Vermeidung eines Grundrechtsverstoßes gelte Entsprechendes von der Feststellung, durch eine Nebentätigkeit könnten weitere 150 €/Monat hinzuverdient werden: Derartige Feststellungen dürfen, so das Bundesverfassungsgericht, nur unter Berücksichtigung der Erwerbsbiografie und nach Darlegung der persönlichen Umstände getroffen werden; für die Zurechnung eines Nebenverdienstes sei der Stundensatz und die fiktiv angenommene zeitliche Beanspruchung darzulegen.
KG · Beschluss vom 25. Februar 2015 · Az. 13 WF 263/14
vgl. dazu auch die BVerfG-Beschlüsse vom 18. Juni 2012:
1 BvR 774/10
1 BvR 1530/11
1 BvR 2867/11
Manche Arbeitgeber gewähren „Zeitwertkonten“, z.B die Deutsche Bahn. Der Arbeitnehmer verzichtet dann auf die Auszahlung von Gehaltsteilen und kann für Freizeit ansparen, bis hin zu einem Sabbatical.
Das OLG Brandenburg musste sich damit befassen, was das unterhaltsrechtlich bedeutet.
Im Ergebnis wurde beim Trennungsunterhalt so gerechnet, als würde die Ehefrau nicht mtl. brutto 122 Euro auf ihr Zeitwertkonto einzahlen, allerdings erfolgte die Umrechnung in ein fiktives Netto.
Sogenannten Zeitwertkonten kommt eine unterhaltsrechtliche Bedeutung zu, weil die Bildung von Zeit-Werten eine Verminderung des aktuellen Einkommens zur Folge hat, weshalb dies beim Vorliegen weiterer Voraussetzungen zu einer Zurechnung eines fiktiven Einkommens führen kann.
OLG Brandenburg - Beschluss vom 30.08.2021 - 9 UF 239/20
Oberlandesgericht Hamm, 12 UF 225/14 – Beschluss vom 24.04.2015:
Das Interesse des unterhaltspflichtigen Elternteils an einer Erstausbildung tritt jedenfalls dann hinter dem Interesse des Kindes auf Zahlung des Mindestunterhalt zurück, wenn der Unterhaltsverpflichtete bereits mehrere Erstausbildungen abgebrochen hat und aufgrund seiner Schulausbildung sowie sonstigen beruflichen Erfahrung in der Lage ist, eine berufliche Tätigkeit auszuüben, mit der er sowohl sein Einkommen als auch den Mindestunterhalt erwirtschaften kann.
Der Fall:
Ein 11jähriger Junge lebt beim Vater und begehrt von der Mutter Mindestunterhalt.
Die inzwischen 35-jährige Mutter stammt aus Mexiko und hat bislang keine abgeschlossene Berufsausbildung, aber in Mexiko die allgemeine Hochschulreife erworben. Nachdem sie ein erstes Studium abgebrochen hatte, begann sie ein Studium des International Business. Sie lernte den Vater ihres Kindes kennen, heiratete ihn im Jahr 2001 und lernte die deutsche Sprache. Nach der Geburt des Sohnes blieb sie zunächst zu Hause. Später begann sie eine Ausbildung zur Erzieherin, die sie abbrach. Im Juli 2010 begann sie eine Ausbildung, die sie im März 2011 abbrach. Im Sommer 2011 nahm sie erneut das Studium Internationales Business auf, welches sie im Sommer 2013 abbrach. Ab November 2013 bezog sie zunächst Leistungen nach dem SGB II. Im August 2014 begann sie eine zweijährige Ausbildung/Umschulung zur Veranstaltungskauffrau. Diese brach sie im Oktober 2014 ab. Seit dem 24.11.2014 ist sie angestellt und verdient mtl. rund 1.425,00 € netto.
Es geht um den Kindesunterhalt ab November 2013.
Für die Zeit ab Dezember 2014 (tatsächliche Einkünfte) entscheidet das OLG:
Nach Abzug der vollen Fahrtkosten verbleiben der Antragsgegnerin noch 1.234,37 €. Ihr fehlten damit nach Abzug des vollen Selbstbehalts im Dezember 2014 knapp 40,00 €, ab Januar 2015 knapp 120,00 € um aus ihrem tatsächlichen Einkommen den Mindestunterhalt für ihr Kind zu zahlen. Diese tatsächlich nicht vorhandenen Beträge sind ihr fiktiv zuzurechnen, da sie in der Lage wäre, durch eine Nebentätigkeit entsprechende Einkünfte zu erzielen. Neben ihrer hauptberuflichen Tätigkeit ist der Antragsgegnerin eine Nebentätigkeit im Umfang von vier Stunden in der Woche zuzumuten, mit denen sie ein weiteres Einkommen von zumindest 120,00 € monatlich erzielen könnte. Wenn die Antragsgegnerin neben ihrer vollschichtigen Tätigkeit weitere vier Stunden arbeiten würde, käme sie auf eine Wochenarbeitszeit von 44 Wochenstunden und läge damit innerhalb der gem. § 3 ArbZG zulässigen durchschnittlichen Wochenarbeitszeit von 48 Stunden. Darüber hinaus ist bei der Zumutbarkeit einer Nebentätigkeit auf die spezifische Arbeits- und Lebenssituation des Pflichtigen abzustellen (OLG Hamm, FamRZ 2010, 985). Angesichts ihrer geregelten Arbeitszeiten, der einfachen Entfernung zwischen ihrer Wohnung und ihrer Arbeitsstelle von 17,4 km, dem Umstand, dass sie diese Wegstrecke mit dem PKW und damit in kurzer Zeit zurücklegen kann und schließlich vor dem Hintergrund, dass sie keine weiteren Kinder zu betreuen hat, ist es ihr ohne weiteres zuzumuten, eine zusätzliche (geringfügige) Nebentätigkeit aufzunehmen, die sie in die Lage versetzt, die fehlenden Beträge für den Mindestunterhalt zu erwirtschaften. In Betracht kommt beispielsweise eine Nebentätigkeit als Thekenkraft im Fitnessstudio/Tanzschule oder als Aushilfskraft in einer Bäckerei oder Tankstelle. Die Darlegungs- und Beweislast für das Fehlen oder die Unzumutbarkeit einer Nebentätigkeit hat der Unterhaltsschuldner. Da die Antragsgegnerin anscheinend bislang nicht einmal auf die Idee gekommen ist, neben ihrer Vollzeittätigkeit eine Nebentätigkeit auszuüben, können entsprechende Bemühungen nicht festgestellt werden. Von einer realen Beschäftigungschance ist angesichts der Zeit, die der Antragsgegnerin hierfür zur Verfügung steht – in den frühen Morgenstunden, den Abendstunden oder am Wochenende – bei lebensnaher Betrachtung auszugehen.
Für die Zeit davor rechnet das OLG ihr die späteren tatsächlichen Einkünfte als erzielbar (fiktiv) an:
Der Streit zwischen den Beteiligten, welches Einkommen die Antragsgegnerin als ungelernte Arbeitskraft hätte erzielen können, hat sich durch die tatsächliche Entwicklung erledigt. Die Antragsgegnerin erzielt inzwischen als Sachbearbeiterin ein monatliches Nettoeinkommen von 1.425,37 €. Es gibt keinen Anlass zu der Annahme, dass es ihr nicht möglich gewesen wäre, schon ein Jahr früher eine solch dotierte Stelle zu finden, wenn sie sich hinreichend bemüht hätte, denn ihre berufliche Qualifikation hat sich in dem einen Jahr nicht wesentlich gesteigert. Insbesondere ist weder vorgetragen noch ersichtlich, dass ihre dreimonatige Ausbildung/Umschulung ihre beruflichen Kenntnisse so wesentlich vorangebracht hätte, dass sich hierdurch ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt erhöht hätten.
Die Erwerbsobliegenheit eines unterhaltsberechtigten Ehegatten kann sich unter Berücksichtigung der Dauer der Ehe bei Geburt und Kindererziehung mit einer erheblichen Berufspause zunächst auf längere Fortbildungen zum Wiedereinstieg in den gelernten Beruf richten (hier anderthalb Jahre für eine Erzieherin bei vieljähriger Berufspause).
OLG Brandenburg, Beschluss vom 27.12.2019 – 13 UF 74/15
Ein Vater war sieben Jahre lang bei einem Betrieb unbefristet beschäftigt gewesen und hat dort rund 2.300 Euro monatlich netto verdient. Im März 2012 kündigte er dort, um bei einem Veranstalter mittelalterlicher Märkte zu arbeiten (befristet von April bis Dezember, Lohnerwartung 3.000 Euro netto). Nun könnte man meinen, der Vater habe das Richtige getan, um seine Leistungsfähigkeit für den Kindesunterhalt zu erhöhen – aber weit gefehlt.
Im Nachhinein ist man nämlich immer klüger: Bereits im Mai musste er sich mit einer Lohnabsenkung auf 2.000 € zufrieden geben, weil die Veranstaltungen nicht wie erwartet liefen, im Dezember wurde das Arbeitsverhältnis nicht verlängert. Der Vater meinte, das habe er nicht vorhersehen können, die Richter sahen das anders. Bei einer beruflichen Veränderung, die sich nachhaltig auf die Einkünfte auswirke, sei zu prüfen, ob der Unterhaltsverpflichtete die Leistungsunfähigkeit selbst verschuldet habe. Dies sei bei einem leichtfertigen, vom üblichen sozialen Standard abweichenden Verhalten der Fall. Leichtfertig in diesem Sinn handele, wer seine Arbeitskraft auf sinnlose Art aufs Spiel setze und einbüße. Die Richter kamen zu dem Ergebnis, dass der Mann sich zumindest leichtfertig verhalten habe. Wer zu Unterhalt verpflichtet ist, trägt eine besondere Verantwortung, was seine finanzielle Leistungsfähigkeit angeht. Geht er etwa leichtfertig berufliche Risiken ein und gerät deswegen in finanzielle Nöte, kann das Gericht bei der Berechnung des Unterhalts ein fiktives Einkommen zugrunde legen.
Ein befristetes Arbeitsverhältnis in einer berufsfremden Tätigkeit mit einem Einzelunternehmer im Hinblick auf die Möglichkeit eines kurzfristig höheren Entgelts sei unterhaltsrechtlich nicht zu verantworten. Der Mann habe die Aussicht gehabt, innerhalb von achteinhalb Monaten 25.500 Euro netto zu verdienen mit dem Risiko anschließender Arbeitslosigkeit, während er bei Weiterbeschäftigung innerhalb eines Jahres sicher über ein Nettoeinkommen von rund 27.650 Euro verfügt hätte. Unter diesen Umständen habe er keine berechtigte Erwartung auf eine langfristige Verbesserung seiner beruflichen und wirtschaftlichen Situation hegen können.
Oberlandesgericht Dresden am 7. März 2013 (AZ: 20 WF 192/13, 20)
OLG Köln, Beschluss vom 30.03.2011, 4 WF 51/11:
1. Ein unterhaltsberechtigter Ehegatte, der ohne Arbeit ist, genügt seiner Erwerbsobliegenheit nicht, wenn er für einen Zeitraum von mehr als sechs Monaten lediglich rund 40 Bewerbungen vorlegen kann. Dabei ist ihm auch die Einarbeitung in neue Tätigkeitsbereiche, die Beschäftigungschancen bieten, zuzumuten.
2. Genügt der unterhaltsberechtigte Ehegatte seiner Erwerbsobliegenheit nicht, so ist ihm ein Nettoeinkommen von etwa 1.000 EUR fiktiv zuzurechnen.
Aus den Gründen:
Mit zutreffender Begründung hat das Amtsgericht das Verfahrenskostenhilfegesuch der Antragsgegnerin für die Folgesache nachehelicher Unterhalt mangels Erfolgsaussichten zurückgewiesen. Die vorgelegten Bewerbungen reichen zur Erfüllung der unterhaltsrechtlichen Erwerbsobliegenheit weder quantitativ noch qualitativ aus. Es wurden ohne näheren Sachvortrag nur rund 40 Bewerbungen für einen Zeitraum von über 6 Monaten vorgelegt. Dies reicht quantitativ bei weitem nicht aus. Zu beanstanden ist zudem, dass sich die Antragsgegnerin - abgesehen von einer Bewerbung auf eine Stelle als Verkäuferin – nur als Bürokraft beworben hat. Tätigkeitsbereiche, in denen gerichtsbekannt erheblicher Bedarf an Arbeitskräften besteht, wie etwa in der Kinder- und Seniorenbetreuung sowie vor allem im Bereich Pflege, wurden in die Bewerbungsbemühungen nicht einbezogen. Der 47-jährigen Antragsgegnerin kann durchaus zugemutet werden, sich in neue Tätigkeitsbereiche einzuarbeiten.
Ein Unterhaltsschuldner ist, wenn er nicht im Einzelfall die Unzumutbarkeit darlegt, grundsätzlich verpflichtet, zur Deckung des Unterhaltsbedarfs minderjähriger Kinder ein Verbraucherinsolvenzverfahren einzuleiten. Vorteile und Nachteile des Insolvenzverfahrens sind dabei im jeweiligen Einzelfall insgesamt gegeneinander abzuwägen. Ein Argument gegen eine Pflicht zur Verbraucherinsolvenz könnte ein deswegen drohender Arbeitsplatzverlust sein.
Als die Eltern zweier Kinder sich trennten, blieben Schulden übrig, für die beide hafteten. Der Vater war neben seinem Vollzeitberuf noch im Minijob tätig und stotterte die Schulden ab, weshalb er meinte, keinen Kindesunterhalt zahlen zu können. Die Mutter bezog Unterhaltsvorschuss, das Jugendamt nahm den Vater für die Zahlungen in Regress.
Das OLG hatte bei den Schulden den Zweck der Verbindlichkeiten, der Zeitpunkt und die Art ihrer Entstehung, die Dringlichkeit der beiderseitigen Bedürfnisse, die Kenntnis des Unterhaltsschuldners von Grund und Höhe seiner Unterhaltsverpflichtungen und seine Möglichkeiten, seine Leistungsfähigkeit ganz oder teilweise wiederherzustellen, abzuwägen. Insbesondere wenn der Mindestkindesunterhalt nicht gedeckt ist, gibt die Rechtsprechung dem Schuldner nämlich nur einen Anspruch darauf, dass seine Verschuldung nicht wächst, so dass Tilgungsraten teilweise nicht berücksichtigt werden. Zudem muss sich der Schuldner intensiv um eine Tilgungsstreckung bemühen, wobei dies - wie auch hier - in den seltensten Fällen erfolgreich ist.
Im Ergebnis war er dazu verpflichtet, einen Privatinsolvenzantrag zu stellen. Er müsse seine Zahlungen an Drittgläubiger bis zur Höhe der Pfändungsfreigrenzen einstellen, um den unterhaltsberechtigten Kindern die Möglichkeit der erweiterten Pfändung bis zum Selbstbehalt nach § 850 d ZPO zu eröffnen.
Der Vater argumentierte dagegen: da die Mutter der Kinder gesamtschuldnerisch mitverpflichtet sei, werde die Bank sich an sie wenden, was zum Nachteil des Haushaltseinkommens auch die Kinder betreffe. Das OLG sah das als unzulässige Vermischung: Der Unterhalt stehe den Kindern zu und habe nichts mit der Einkommens- und Ausgabensituation der Mutter zu tun.
Allerdings sah das OLG ein, dass man nicht rückwirkend fiktiv so rechnen könne, als habe der Vater den Insolvenzantrag bereits vor Jahren gestellt – die Überlegungen galten daher nur für die Zukunft. Die Raten, die der Vater aus der Ehe mitgenommen hatte und nach vergeblichen Verhandlungen mit der Bank bedienen musste, wurden für die Vergangenheit berücksichtigt – neu aufgenommene Kredite aber nicht. Auch Raten auf ein Bußgeld konnte er den Kindern nicht entgegenhalten.
OLG Hamm - Beschluss vom 11.12.2023 (4 UF 141/22)