„Einer zahlt, einer betreut“ hieß es bislang ganz grundsätzlich beim Kindesunterhalt, so z.B. in BGH 14.02.2077, XII ZB 190/04, mit wenigen Ausnahmen. Der BGH hat dies bislang zwar nicht explizit aufgegeben, hat aber in mehreren Entscheidungen nun das zusammengerechnete Elterneinkommen zur Grundlage der Bedarfsermittlung der Kinder genommen. In der Wechselmodellberechnung vom 11.01.2017 (XII ZB 565/15) überraschte das erstmal noch nicht, weil es hier das „einer betreut“ nicht gibt - aber in der Entscheidung zum mietfreien Wohnen der Kinder vom 18.05.2022 (XII ZB 325/20) verdichtete sich der Eindruck, dass der BGH seine Sichtweise auf die Bedarfsermittlung ganz grundsätzlich verändert hat.
Schon in der Elternunterhaltsentscheidung vom 15.02.2017 – XII ZB 201/16 – wurden die Auswirkungen klar: Auch beim betreuenden Elternteil entstehen Kosten für Kinder, die er als Naturalunterhalt leistet, die aber gegenüber den nachrangigen Eltern vom Einkommen abgezogen werden können. In der Entscheidung zum Trennungsunterhalt bei guten Einkommensverhältnissen vom 29.09.2021 (XII ZB 474/20) zeigte sich, dass die betreuende Mutter mehr Trennungsunterhalt benötigte, weil sie von ihrem eigenen Einkommen auch Kosten des Kindes in ihrem Haushalt deckte.
Berechnet wird das nun wie folgt: Aus dem zusammengerechneten Einkommen erfolgt die Einstufung in die Düsseldorfer Tabelle. Der nicht-betreuende Elternteil muss dennoch nur das zahlen, was seiner eigenen Einkommensgruppe entspricht. Der „Fehlbetrag“ ist also der Naturalunterhalt und wird relevant für weitergehende Unterhaltsberechnungen (zwischen Ehegatten und gegenüber Eltern oder nachrangigen volljährigen Kindern).
Der Jahresbetrag dessen, was gefordert wird, setzt den Maßstab für Ihre Kosten nach der RVG-Gebührentabelle.
Aber: Gerade wenn Sie sich rechtzeitig - im Vorfeld - beraten lassen, gibt es ja noch keine bezifferte Forderung. Die soll ja erst das Ergebnis meiner Arbeit sein. Ich rechne daher zur beiderseitigen Klarheit lieber nach meiner aufgewendeten Zeit ab als nach diesem unbekannten Streitwert. Sie schließen mit mir eine Honorarverbeinbarung. So können Sie selbst beeinflussen, wie viel meiner Zeit Sie benötigen und wie viel ich Sie koste.
Die Höhe des Bedarfs ergibt sich bei Kindern aus der Düsseldorfer Tabelle und hing bisher allein vom Einkommen des zahlenden Elternteiles ab. Danach richtet sich auch weiterhin dessen Zahlungsverpflichtung, aber der Bedarf des Kindes ist höher, den Rest deckt der betreuende Elternteil als Naturalunterhalt.
Es gibt eine Sättigungsgrenze, denkbar sind aber auch Sonder- und Mehrbedarf.
Das halbe Kindergeld wird auf den Bedarf angerechnet.
Relevant ist immer 1/12 des künftigen (prognostischen) Jahreseinkommens.
"Bereinigtes Einkommen" ist das Nettoeinkommen (aus Erwerbstätigkeit, aus Zinseinkünften, aus Mieteinnahmen aus Renten usw.) abzüglich der berufsbedingten Aufwendungen und eheprägenden Belastungen, die dem Unterhaltsberechtigten entgegengehalten werden dürfen.
Dazu könnten Fahrtkosten, Hauskredite, Verbraucherkredite, Altersvorsorge, Versicherungen u.v.m. gehören.
Eine sinnvolle Vorbereitung für den Besuch beim Anwalt ist, alle Fixkosten eines Jahres zu notieren - damit dieser sortieren kann, welche unterhaltsrelevant sind. Indem dies vorweg abgezogen wird, beteiligt sich ein Unterhaltsberechtigter rechnerisch an den Kosten oder Krediten. Bei Ehegattenunterhalt wird dadurch eine zusätzlicher Gesamtschuldnerausgleich entbehrlich.
Die Bereinigung des Einkommens ist die Säule der Unterhaltsberechnung mit erheblichen Auswirkungen auf das Ergebnis.
Die Düsseldorfer Tabelle geht davon aus, dass das Kind einen Lebensmittelpunkt hat und den anderen in üblichem Umfang besucht. Abzüge für Urlaubszeiten sind daher nicht angebracht.
Umgekehrt zahlt derjenige, der gar keinen Kontakt zu seinen Kindern hat, nicht mehr.
Ist der Umfang der Mitbetreuung so hoch, dass im Lebensmittelpunkt-Haushalt tatsächlich Kosten gespart werden, kann das im Einzelfall Abzüge rechtfertigen.
Handelt es sich um ein echtes Wechselmodell, passt die Düsseldorfer Tabelle so einfach nicht.
Sowohl der Unterhaltspflichtige als auch der berechtigte Ehegatte sind in der Regel verpflichtet, ihre Arbeitskraft zum Geldverdienen einzusetzen. Das nennt man "Obliegenheiten".
Bis zu welchem Kindesalter ein betreuender Elternteil gar nicht arbeiten muss, dann Teilzeit und schließlich vollschichtig, hing früher strikt vom Alter der Kinder ab und stand konkret in den Leitlinien der Oberlandesgerichte, sog. Altersphasenmodell. Seit 2008 ist eine individuelle Betrachtung - z.B. der Fremdbetreuungssituation für die Kinder und der MItbetreuung durch den anderen Elternteil - angezeigt.
Wer eine "Erwerbsobliegenheit" hat, aber keine Arbeit, der muss sich Arbeit suchen - und zwar mit demselben zeitlichen Aufwand, wie er arbeiten müsste (d.h. z.B. 35 Stunden wöchentlich mit der Suche verbringen und das dokumentieren). Wer den Richter nicht überzeugen kann, dass seine Erwerbslosigkeit nicht an ihm liegt, dem kann - egal ob Pflichtiger oder Bedürftiger - ein Einkommen unterstellt werden, das sog. fiktive Einkommen.
Wer den Richter mit dem Satz abspeisen will "Ich bin beim Arbeitsamt gemeldet und frage da regelmäßig nach", der wird vom Richter hören, dass man beim Arbeitsamt keine Arbeit findet.
Das Gericht darf aber auch nichts Unmögliches verlangen, Bundesverfassungsgericht, Beschluss v. 9.11.2020 – 1 BvR 697/20.
Als Einkommen einer Familie gilt übrigens auch der "Wert des mietfreien Wohnens", wenn es Wohneigentum gibt. Indem dies in der Ehegatten-Unterhaltsberechnung berücksichtigt wird, muss nicht zusätzlich nachgedacht werden, ob der, der nach der Trennung allein im Haus wohnt, Miete bzw. Nutzungsentschädigung zahlen müsste.
Die Höhe dieses Wohnwertes hängt davon ab, wie lange die Trennung schon andauert, ob schon ein Scheidungsverfahren läuft, ob der Ehegatte Alleineigentümer ist u.v.m.
Das miefreie Wohnen darf aber nicht beim Kindesunterhalt abgezogen werden!
Typischer Fall: Eltern trennen sich, Vater zieht aus, Mutter und Kinder bleiben im Eigenheim wohnen. Wenn das Eigenheim bereits abbezahlt ist oder der Vater die Kreditraten trägt, stellt sich in der Praxis immer wieder die Frage, was das für den Kindesunterhalt nach der Düsseldorfer Tabelle bedeutet. Denn in dem Warenkorb der Tabelle sind natürlich auch Wohnkosten enthalten, die aber hier nicht konkret anfallen. Der BGH hat diese Frage im Mai 2022 geklärt.
Im konkreten Fall war das Haus abbezahlt und gehörte dem Vater zu 60%, der Mutter zu 40%. Der Vater hatte von der Mutter keine Nutzungsentschädigung für seinen Anteil verlangt, die Mutter hatte vom Vater keinen Trennungsunterhalt verlangt.
Am 31.10.2012 und 17.12.2008 hatte der BGH bereits Überlegungen zu der in der Literatur vertretenen Meinung angestellt, ob man 20% des Tabellenbedarfes als Wohnkosten ansetzen kann und – wenn das Haus dem barunterhaltspflichten Elternteil gehört – in dieser Höhe eine bedarfsdeckende Erfüllung des Unterhaltsanspruches sehen kann.
Nun aber stellt der BGH klar, dass die Frage des Wohnvorteiles nicht in den Kindesunterhalt gehört, sondern auf die Ebene zwischen den Eltern – in den Trennungs-/ Nachscheidungsunterhalt oder als Nutzungsentschädigung.
Es steht den Eltern frei, dazu eine Berechnung durchzuführen, eine Vereinbarung zu treffen oder eine gerichtliche Klärung herbeizuführen. Dort wird dann der Wohnvorteil für das gesamte Objekt der Mutter zugeordnet und mindert ihren Unterhaltsanspruch bzw. muss sie Nutzungsentschädigung zahlen.
Der Kindesunterhalt nach Düsseldorfer Tabelle ist aber in voller Höhe zu zahlen.
Hinweis:
Sowohl den Unterhalt zwischen den Ehegatten als auch die Nutzungsentschädigung bekommt man nicht rückwirkend, wenn der andere nicht „in Verzug“ gesetzt wurde. Daher ist es immer die schlechteste Lösung, nicht unmittelbar nach der Trennung auch die o.g. Berechnung durchzuführen.
BGH 18.05.2022 - XII ZB 325/20
Wie der Name schon sagt: Der "Mindestunterhalt" ist mindestens fällig. Nur wenige Ausnahmen bestätigen diese Regel.
Die Einkommensgruppe lautet "... bis 1.900 €", und es wird vermutet, dass jeder Vater/Mutter in der Lage ist, diesen Mindestunterhalt sicherzustellen.
Wer trotz aller Bemühungen diesen Mindestunterhalt nicht aufbringen kann, muss das konkret darlegen und beweisen.
Der Hinweis auf Hartz-IV-Bezug allein reicht z.B. nicht aus.
Gemäß § 1603 Abs. 2 Satz 1 BGB besteht gegenüber minderjährigen unverheirateten Kindern eine gesteigerte Unterhaltspflicht mit beson deren Obliegenheiten. Daraus ergibt sich für die Eltern eine besondere Verpflichtung zum Einsatz der eigenen Arbeitskraft. Wer sich nicht ausreichend darum bemüht, Einkünfte zu erzielen, aus denen er den Mindestunterhalt decken kann, kann dennoch zur Zahlung verurteilt werden.
Das Problem bei der Verurteilung aus fiktiven Einkünften stellt sich dann erst bei der Vollstreckung, aber die Schulden wachsen an.
Ausserdem wird den Eltern Verzicht im Ausgabenbereich zugemutet, um den Mindestunterhalt zu decken. Dabei kommt es insbesondere auf den Zweck der Verbindlichkeit, den Zeitpunkt und die Art ihrer Entstehung, die Kenntnis des Unterhaltspflichtigen von Grund und Höhe der Unterhaltsschuld und andere Umstände an.
Bei der Abwägung fällt in erster Linie ins Gewicht, dass es wesentliche Aufgabe des barunterhaltspflichtigen Elternteils ist, das Existenzminimum seines minderjährigen Kindes sicherzustellen.
Kritisch sind die Gerichte beim Mindestunterhalt bzgl. der Berücksichtigung von Abzugspositionen wie z.B. die eigene Altersvorsorge.
Grundsätzlich bestätigt der BGH, Urt. v. 30.01.2013 - XII ZR 158/10, dass Ausgaben für eine zusätzliche Altersversorgung unterhaltsrechtlich zu berücksichtigen sind, und zwar beim Ehegatten- und Kindesunterhalt mit bis zu 4 % des Gesamtbruttoeinkommens des Vorjahres (BGH, Urt. v. 11.05.2005 - XII ZR 211/02).
Aufwendungen des gesteigert unterhaltspflichtigen Elternteils für eine zusätzliche Altersversorgung und eine Zusatzkrankenversicherung sind aber nach der o.g. Entscheidung aus Januar 2013 unterhaltsrechtlich nicht berücksichtigungsfähig, wenn dadurch der Mindestunterhalt für ein minderjähriges Kind andernfalls nicht aufgebracht werden kann.
Achtung: Wenn leistungsfähige Großeltern vorhanden sind, beeinflusst das die Obliegenheiten gem. BGH 27.10.2021, XII ZB 123/21
Den Gerichten genügt es nicht, wenn ein Unterhaltspflichtiger bloß sein Einkommen offenlegt und damit seine Leistungsunfähigkeit belegt. Zusätzlich muss er von sich aus, ungefragt, noch Angaben zu seinem Alter, seiner Vorbildung und seinem beruflichen Werdegang machen. Er muss sich also ausführlich dafür „entschuldigen“, nicht genug zu verdienen, um den Mindestunterhalt bezahlen zu können.
Sonst bekommt er nicht einmal Verfahrenskostenhilfe für seine Rechtsverteidigung bewilligt.
Der Fall
Das 2003 geborene Kind verlangt Mindestunterhalt. Der Vater will nicht zahlen und bekommt für diese Verteidigung gegen den Anspruch keine Verfahrenskostenhilfe. Deshalb geht der Fall zum OLG.
Die Entscheidung des OLG Brandenburg
Die Beschwerde bleibt erfolglos. Das OLG stellt klar, dass sich die Leistungsunfähigkeit (§ 1603 BGB) des Vaters nicht feststellen lässt. Die Leistungsfähigkeit eines Unterhaltsschuldners wird nicht nur durch sein tatsächlich vorhandenes Vermögen und Einkommen bestimmt, sondern auch durch seine Arbeits- und Erwerbsfähigkeit. Wenn seine tatsächlichen Einkünfte nicht ausreichen, um den Unterhaltsbedarf des minderjährigen Kindes zu decken, trifft ihn unterhaltsrechtlich die Obliegenheit, die ihm zumutbaren Einkünfte zu erzielen.
Er muss insbesondere seine Arbeitsfähigkeit so gut wie möglich einsetzen und eine ihm mögliche Erwerbstätigkeit ausüben. Kommt er dieser Erwerbsobliegenheit nicht nach, muss er sich so behandeln lassen, als ob er das Einkommen, das er bei gutem Willen erzielen könnte, tatsächlich erzielt. Zum unterhaltsrechtlich relevanten Einkommen zählen daher auch Einkünfte, die der Unterhaltspflichtige in zumutbarer Weise erzielen könnte, aber tatsächlich nicht erzielt.
Der Unterhaltsschuldner trägt die Darlegungs- und Beweislast für seine eigene Lebensstellung. Im vorliegenden Fall hat der Vater aber hinsichtlich eines ihm möglichen Einkommens schon keine hinreichenden Ausführungen zu seiner Vorbildung und seinem vollständigen beruflichen Werdegang gemacht. So fehlen z.B. Angaben über den Zeitpunkt und das Niveau seines Schulabschlusses ebenso wie eine lückenlose Darstellung seines Ausbildungsgangs, seiner nach dem Ausbildungsabschluss ausgeübten Tätigkeiten und seiner dabei erzielten Einkommen.
Also lässt sich nicht ausschließen, dass der Vater den beanspruchten Unterhalt bei Erfüllung seiner einfachen Erwerbsobliegenheit ohne Beeinträchtigung seines angemessenen Selbstbehalts leisten kann.
OLG Brandenburg, Beschluss vom 01.11.2016 – 13 WF 244/16
Der Fall:
Ein Vater hat ein Kind aus 2012, dem er Mindestunterhalt schuldet, bekommt 2018 ein weiteres Kind aus neuer Beziehung. Ab 2019 geht er ein Elterngeld-Plus-Zeit mit nur 333,13 EUR Einkommen, während seine Ehefrau vollschichtig arbeitet. Für das ältere Kind möchte er keinen Unterhalt mehr zahlen.
Wichtig war hier, dass die Rollenaufteilung deshalb akzeptabel war, da die Ehefrau besser verdiente als der Ehemann.
"Die Wahl, den gesetzlichen Anspruch auf Elternzeit wahrzunehmen und Elterngeld zu beziehen, ist unterhaltsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn sich der Familienunterhalt der neuen Familie dadurch wesentlich günstiger gestaltet als bei umgekehrter Rollenverteilung."
Unter Bezug auf BGH vom 11.2.2015 - XII ZB 181/14 - (Verdoppelung der Elternzeit durch Elterngeld-Plus ist nicht vorwerfbar) wurde geprüft, in welcher Höhe der Vater aus Elterngeld (nach § 11 S. 4 BEEG einsetzbar) und Taschengeldanspruch gegen die Ehefrau leistungsfähig war.
"Nach derzeitiger Rechtsprechung besteht keine Verpflichtung zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit während des Bezugs von Elterngeld. Dies gilt auch in Bezug auf eine Nebenerwerbstätigkeit. Ob dies bei konkurrierenden Ansprüchen in Höhe des Mindestunterhalts im Hinblick auf die Gleichbehandlung aller Kinder noch uneingeschränkt gilt, nachdem sich die Betreuungsmöglichkeiten von Kindern ständig verbessern, ist in diesem Verfahren jedoch nicht zu klären."
OLG Koblenz, Beschluss vom 14.04.2020 - 13 WF 165/20
In den vorliegenden Verfahren hat sich das Bundesverfassungsgericht erneut mit den Voraussetzungen befasst, die an die Feststellung der Erwerbsfähigkeit und Erwerbsmöglichkeiten eines Unterhaltspflichtigen zu stellen sind. Reicht das Einkommen eines Unterhaltspflichtigen unter Wahrung seines Selbstbehalts nicht aus, um seine Unterhaltspflicht gegenüber einem minderjährigen Kind in vollem Umfang zu erfüllen, könnenihm grundsätzlich fiktiv die Einkünfte zugerechnet werden, die er erzielen könnte, wenn er eine ihm mögliche und zumutbare Erwerbstätigkeit ausüben würde.
Der Beschwerdeführer im Verfahren 1 BvR 774/10 stammt aus Ghana und ist der deutschen Sprache nur begrenzt mächtig. Als Küchenhilfe bezieht er einen Nettoverdienst von rund 1.027 € monatlich. Das Amtsgericht verurteilte ihn, an seinen minderjährigen Sohn den Mindestunterhalt von damals 199 € im Monat zu zahlen. Es sei davon auszugehen, dass er als ungelernte Arbeitskraft bei entsprechenden Bemühungen eine Erwerbstätigkeit finden könne, die mit einem Bruttostundenlohn von 10 € vergütet werde, sodass er von dem sich ergebenden Nettoeinkommen unter Berücksichtigung des Selbstbehalts in Höhe von 900 € den Mindestunterhalt in Höhe von 176 € decken könne. Den Fehlbetrag von 23 € müsse er mit einer Nebentätigkeit erwirtschaften.
Der 1953 geborene Beschwerdeführer im Verfahren 1 BvR 1530/11, gelernter Baumaschinist und Betonfacharbeiter, ist körperlich behindert und lebt von Sozialleistungen. Das Amtsgericht verurteilte ihn zur Zahlung des Mindestunterhalts in Höhe von damals 285 € im Monat, wobei es unterstellte, dass der Beschwerdeführer bei überregionalen Bemühungen eine Arbeit, beispielsweise als Nachtportier oder Pförtner, finden könne, durch die er ein bereinigtes Nettoeinkommen von 1.235 € monatlich erzielen könne.
Der körperlich behinderte Beschwerdeführer im Verfahren 1 BvR 2867/11 lebt ebenfalls von Sozialleistungen. Er wurde vom Amtsgericht zur Zahlung eines Unterhalts von 225 € monatlich verpflichtet. Seine körperlichen Einschränkungen entbänden ihn nicht davon, alles ihm Mögliche zur Sicherung des Unterhalts seines minderjährigen Kindes zu unternehmen. Da er keine Angaben zu seinen Bemühungen um eine Arbeit gemacht habe, sei fiktiv von seiner Fähigkeit zur Zahlung des Mindestunterhalts auszugehen.
Die von den Beschwerdeführern jeweils eingelegten Rechtsmittel hatten vor den Oberlandesgerichten keinen Erfolg. Die 2. Kammer des Ersten Senats hat die angegriffenen Entscheidungen aufgehoben, weil sie die Beschwerdeführer in ihrem Grundrecht auf wirtschaftliche Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG verletzen, und die Sachen jeweils an das zuständige Oberlandesgericht zur Entscheidung zurückverwiesen.
Den Beschlüssen liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zugrunde:
Eltern haben gegenüber ihren minderjährigen Kindern eine gesteigerte Erwerbsobliegenheit. Es ist daher verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass nicht nur die tatsächlichen, sondern auch fiktiv
erzielbare Einkünfte berücksichtigt werden, wenn der Unterhaltsverpflichtete eine ihm mögliche und zumutbare Erwerbstätigkeit unterlässt, obwohl er diese „bei gutem Willen“ ausüben könnte. Gleichwohl bleibt Grundvoraussetzung eines jeden Unterhaltsanspruchs die Leistungsfähigkeit des Unterhaltsverpflichteten. Auch im Rahmen der gegenüber minderjährigen Kindern gesteigerten Erwerbsobliegenheit haben die Gerichte dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Rechnung zu tragen und im Einzelfall zu prüfen, ob der Unterhaltspflichtige in der Lage ist, den beanspruchten Unterhalt zu zahlen. Wird die Grenze des Zumutbaren eines Unterhaltsanspruchs überschritten, ist die Beschränkung der finanziellen Dispositionsfreiheit des Verpflichteten als Folge der Unterhaltsansprüche des Bedürftigen nicht mehr Bestandteil der verfassungsmäßigen Ordnung und kann vor dem Grundrecht der wirtschaftlichen Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG nicht bestehen.
Die Zurechnung fiktiver Einkünfte zur Begründung der Leistungsfähigkeit setzt zweierlei voraus: Zum einen muss feststehen, dass subjektiv Erwerbsbemühungen des Unterhaltsschuldners fehlen. Zum anderen müssen die zur Erfüllung der Unterhaltspflichten erforderlichen Einkünfte für den Verpflichteten objektiv erzielbar sein, was von seinen persönlichen Voraussetzungen wie beispielsweise Alter, beruflicher Qualifikation, Erwerbsbiographie und Gesundheitszustand und dem Vorhandensein entsprechender Arbeitsstellen abhängt.
Diesen Maßstäben werden die angegriffenen Entscheidungen nicht gerecht, weil sie keine tragfähige Begründung für die Annahme enthalten, der Beschwerdeführer könnte bei einem Arbeitsplatzwechsel bzw. bei ausreichenden, ihm zumutbaren Bemühungen um einen Arbeitsplatz ein Einkommen in der zur Zahlung des titulierten Unterhalts erforderlichen Höhe erzielen.
1. Im Verfahren 1 BvR 774/10 hat das Oberlandesgericht ohne nähere Begründung und ohne seine eigene Sachkunde näher darzulegen festgestellt, einem ungelernten Mann sei es möglich, einen Bruttostundenlohn von 10 € zu erzielen. Dass es sich dabei an den persönlichen Voraussetzungen und Möglichkeiten des Beschwerdeführers und an den tatsächlichen Gegebenheiten am Arbeitsmarkt orientiert hat, ist der angegriffenen Entscheidung nicht zu entnehmen. Das Oberlandesgericht hat sich insbesondere nicht mit dem derzeit für eine ungelernte Kraft erzielbaren Lohn bzw. den aktuellen Mindestlöhnen der verschiedenen Branchen auseinandergesetzt.
Soweit sich der Beschwerdeführer zusätzlich gegen die Anrechnung fiktiver Einkünfte aus einer geringfügigen Nebentätigkeit wendet, ist seine Verfassungsbeschwerde dagegen unzulässig, weil er eine Verletzung seiner wirtschaftlichen Handlungsfreiheit nicht dargetan hat. Eine Obliegenheit zur Erzielung von Nebeneinkünften, die dem Unterhaltspflichtigen bei der Unterhaltsberechnung fiktiv zugerechnet werden können, ist nur dann anzunehmen, wenn und soweit ihm die Aufnahme einer weiteren Erwerbstätigkeit unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls zumutbar ist und ihn nicht unverhältnismäßig belastet.
Danach ist zu prüfen, ob und in welchem Umfang es ihm unter Abwägung seiner besonderen Lebens- und Arbeitssituation sowie seiner gesundheitlichen Belastung mit der Bedarfslage des Unterhaltsberechtigten zugemutet werden kann, eine Nebentätigkeit auszuüben, und ob der Arbeitsmarkt entsprechende Nebentätigkeiten für den Betreffenden bietet. Die Darlegungs- und Beweislast liegt insoweit beim Unterhaltsverpflichteten. Der Beschwerdeführer hat nicht dargetan, dass und aus welchen Gründen ihm die Aufnahme einer Nebentätigkeit nicht möglich bzw. nicht zumutbar ist.
2. In den Verfahren 1 BvR 1530/11 und 1 BvR 2867/11 haben die Gerichte zwar zutreffend festgestellt, dass die Beschwerdeführer sich nicht ausreichend um eine Erwerbstätigkeit bemüht haben. Sie haben jedoch ebenfalls keine Feststellung dazu getroffen, auf welcher Grundlage sie zu der Auffassung gelangt sind, dass die Beschwerdeführer bei Einsatz ihrer vollen Arbeitskraft und bei Aufnahme einer ihren persönlichen Voraussetzungen entsprechenden Arbeit objektiv in der Lage wären, ein Einkommen in der zur Leistung des titulierten Unterhalts erforderlichen Höhe zu erzielen. Zu dieser Feststellung hätte es einer konkreten Prüfung unter Berücksichtigung der beruflichen Ausbildung der Beschwerdeführer, ihres Alters und ihrer krankheitsbedingten Einschränkungen sowie der tatsächlichen Gegebenheiten auf dem Arbeitsmarkt bedurft. Ohne diese konkrete Prüfung hätten die Gerichte nicht auf die volle Leistungsfähigkeit der Beschwerdeführer in Höhe des titulierten Kindesunterhalts schließen dürfen.
Bundesverfassungsgericht - Pressestelle -
Pressemitteilung Nr. 51/2012 vom 06. Juli 2012
Beschlüsse vom 18. Juni 2012
1 BvR 774/10
1 BvR 1530/11
1 BvR 2867/11
Auch nach den o.g. Verfassungsgerichts-Entscheidungen verurteilen die Gerichte zum Mindestunterhalt, wenn ausreichender Vortrag des Elternteiles fehlt, warum er nicht leistungsfähig ist. Hier wurde ein Hartz-IV-Bezieher zum Unterhalt verurteilt. Das Kind wird daraus vermutlich laufend kein Geld bekommen, aber es wachsen Schulden des Vaters an, die vollstreckbar sind, wenn er je wieder Einkommen / Vermögen hat.
Und ganz langfristig ist zu bedenken: Kommt dieser Vater im Alter in ein Pflegeheim, kann das Kind beweisen, dass er seine Unterhaltspflicht verletzt hat (ohne Gerichtsurteil läuft diese Behauptung ins Leere). Und nicht zuletzt ist Unterhaltspflichtverletzung auch eine Straftat. Vielleicht motiviert all dies den Hartz-IV-Bezieher besser zur Arbeitssuche als Sanktionen nach SGB II.
Der Fall:
Das Kind ist knapp 3, der Vater Anfang 30. Er hat den Hauptschulabschluss nach der Klasse 10. erworben. Eine Berufsausbildung zum Gärtner hat er abgebrochen, bei Zeitarbeitsfirmen gearbeitet und in einer Autowäsche für einige Monate monatlich über 1.300 € netto verdient.
Diese Arbeitsstelle verlor er - nach eigenen Angaben schuldlos - im Herbst des Jahres 2014 und ist seitdem arbeitslos. Mittlerweile bezieht er Leistungen nach dem SGB II (Hartz IV).
Dennoch muss er Mindestunterhalt zahlen (in diesem Fall mtl. 236 €). So sah es das AG Marl, bestätigt durch das OLG.
OLG Hamm:
Zu Recht habe das Familiengericht dem Antragsgegner ein fiktives Einkommen angerechnet, das die Zahlung des begehrten Kindesunterhalts ohne Gefährdung seines notwendigen Selbstbehalts zulasse.
Eltern seien gegenüber minderjährigen, unverheirateten Kindern verpflichtet, alle verfügbaren Mittel zu ihrem und der Kinder Unterhalt gleichmäßig zu verwenden (sog. gesteigerte Unterhaltspflicht). Seine eigene Arbeitskraft habe der unterhaltspflichtige Elternteil einzusetzen. Unterlasse er dies, könnten auch fiktiv erzielbare Einkünfte berücksichtigt werden, wenn der unterhaltspflichtige Elternteil eine reale Beschäftigungschance habe.
Dabei habe der Unterhaltspflichtige das Fehlen der Beschäftigungschance darzulegen und zu beweisen. Für gesunde Arbeitnehmer im mittleren Erwerbsalter gelte insoweit selbst in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit regelmäßig kein Erfahrungssatz, nach welchem sie auch als ungelernte Kräfte nicht in eine vollschichtige Tätigkeit zu vermitteln seien. Unter Einsatz aller zumutbaren und möglichen Mittel habe sich der Unterhaltspflichtige nachhaltig darum zu bemühen, eine angemessene Vollzeittätigkeit zu finden.
Die bloße Meldung bei der Agentur für Arbeit genüge nicht. Ebenso nicht, wenn sich der Unterhaltspflichtige lediglich auf die vom zuständigen Jobcenter unterbreiteten Stellenangebote bewerbe. Er müsse nachprüfbar vortragen, welche Schritte er im Einzelnen in welchem zeitlichen Abstand unternommen habe, um eine Erwerbsmöglichkeit zu finden.
Im vorliegenden Fall habe der Antragsgegner offensichtlich keine Erwerbsbemühungen entfaltet. Dazu fehle jeglicher Vortrag. So könne nicht festgestellt werden, dass der Antragsgegner das vom Familiengericht geschätzte monatliche Nettoeinkommen von über 1.300 € nicht erzielen könne. Bei seiner Tätigkeit in einer Autowäsche habe er dieses Einkommen tatsächlich für einige Monate erhalten.
Durchgreifende Gründe dafür, dass der Antragsgegner bei ausreichenden Bemühungen ein solches Nettoeinkommen inklusive Überstundenvergütung nicht wieder erzielen könnte, habe er nicht benannt. Zudem komme die Aufnahme einer Nebentätigkeit in Betracht, wenn der Antragsgegner den Kindesunterhalt nicht mit dem aus einer Haupterwerbstätigkeit erzielbaren Einkommen sicherstellen könne. Auch darauf habe bereits das Familiengericht zu Recht hingewiesen.
OLG Hamm, Beschluss vom 23.12.2015 - 2 UF 213/15
Wer minderjährige Kinder hat, von denen er getrennt lebt, hat eine „gesteigerte Erwerbsobliegenheit“ – das bedeutet, dass er seine Arbeitskraft so gut wie möglich einsetzen muss, um zumindest den Mindestunterhalt zu bezahlen.
Die nach § 1603 Abs. 2 BGB gesteigerte Obliegenheit, seine Arbeitskraft so gut wie möglich einzusetzen und eine einträgliche Erwerbstätigkeit auszuüben, trifft auch den berufstätigen Unterhaltsschuldner, dessen vorhandenes Einkommen zur Erfüllung der Unterhaltspflichten nicht ausreicht. Demnach muss er sich um besser bezahlte Beschäftigungsmöglichkeiten zu bemühen, wobei ihm auch eine Tätigkeit über 40 Wochenarbeitsstunden hinaus bis zu 48 Stunden nach Maßgabe von §§ 3, 9 Abs. 1 ArbZG angesonnen werden kann.
Der Unterhaltsschuldner kann fiktive Einkünfte - auch im Mangelfall - pauschal um fünf Prozent berufsbedingter Aufwendungen bereinigen.
OLG Brandenburg, Beschluss vom 6.9.2018, 13 UF 91/17
Ein 45jähriger Vater hatte keine Ausbildung und arbeitete als ungelernte Kraft bei einer Leiharbeitsfirma, knapp über Mindestlohn, aber nicht Vollzeit. Das tatsächliche Einkommen reichte nicht auch noch für den Kindesunterhalt. In der Beschwerdeinstanz trug er dann noch vor, er werde eine Ausbildung zum Fachlageristen beginnen und dann nur noch eine monatliche Ausbildungsvergütung von 580 € erhalten.
Dennoch verurteilte ihn das OLG Bamberg zum Unterhalt für seine Kinder – aus fiktivem Einkommen.
Das OLG erläuterte dem Vater, dass er sich intensiv, also unter Anspannung aller Kräfte und Ausnutzung aller vorhandenen Möglichkeiten, um die Erlangung eines hinreichend entlohnten Arbeitsplatzes zu bemühen habe. Bis zur gesetzlichen zulässigen Wochenarbeitszeit von 48 Stunden müsse er Nebentätigkeiten aufnehmen. Weil er schon 45 Jahre alt sei und auch bisher immer nur als ungelernte Kraft gearbeitet hatte, hatte sein eigener Anspruch auf eine berufliche Erstausbildung ausnahmsweise nicht Vorrang.
Das OLG rechnete aus, was der Vater mit 48 Wochenstunden verdienen würde, zog noch berufsbedingte Benzinkosten ab, aber auch Benzinkosten, die er für die Abholung der Kinder zu den Umgangswochenenden hatte. Übrig blieben fiktive 300 € für zwei Kinder.
OLG Bamberg - Beschluss vom 09.02.2022 (7 UF 196/21)
Das Interesse des unterhaltspflichtigen Elternteils an einer Erstausbildung tritt jedenfalls dann hinter dem Interesse des Kindes auf Zahlung des Mindestunterhalt zurück, wenn der Unterhaltsverpflichtete bereits mehrere Erstausbildungen abgebrochen hat und aufgrund seiner Schulausbildung sowie sonstigen beruflichen Erfahrung in der Lage ist, eine berufliche Tätigkeit auszuüben, mit der er sowohl sein Einkommen als auch den Mindestunterhalt erwirtschaften kann.
Der Fall:
Ein 11jähriger Junge lebt beim Vater und begehrt von der Mutter Mindestunterhalt.
Die inzwischen 35-jährige Mutter stammt aus Mexiko und hat bislang keine abgeschlossene Berufsausbildung, aber in Mexiko die allgemeine Hochschulreife erworben. Nachdem sie ein erstes Studium abgebrochen hatte, begann sie ein Studium des International Business. Sie lernte den Vater ihres Kindes kennen, heiratete ihn im Jahr 2001 und lernte die deutsche Sprache. Nach der Geburt des Sohnes blieb sie zunächst zu Hause. Später begann sie eine Ausbildung zur Erzieherin, die sie abbrach. Im Juli 2010 begann sie eine Ausbildung, die sie im März 2011 abbrach. Im Sommer 2011 nahm sie erneut das Studium Internationales Business auf, welches sie im Sommer 2013 abbrach. Ab November 2013 bezog sie zunächst Leistungen nach dem SGB II. Im August 2014 begann sie eine zweijährige Ausbildung/Umschulung zur Veranstaltungskauffrau. Diese brach sie im Oktober 2014 ab. Seit dem 24.11.2014 ist sie angestellt und verdient mtl. rund 1.425,00 € netto.
Es geht um den Kindesunterhalt ab November 2013.
Für die Zeit ab Dezember 2014 (tatsächliche Einkünfte) entscheidet das OLG:
Nach Abzug der vollen Fahrtkosten verbleiben der Antragsgegnerin noch 1.234,37 €. Ihr fehlten damit nach Abzug des vollen Selbstbehalts im Dezember 2014 knapp 40,00 €, ab Januar 2015 knapp 120,00 € um aus ihrem tatsächlichen Einkommen den Mindestunterhalt für ihr Kind zu zahlen. Diese tatsächlich nicht vorhandenen Beträge sind ihr fiktiv zuzurechnen, da sie in der Lage wäre, durch eine Nebentätigkeit entsprechende Einkünfte zu erzielen. Neben ihrer hauptberuflichen Tätigkeit ist der Antragsgegnerin eine Nebentätigkeit im Umfang von vier Stunden in der Woche zuzumuten, mit denen sie ein weiteres Einkommen von zumindest 120,00 € monatlich erzielen könnte. Wenn die Antragsgegnerin neben ihrer vollschichtigen Tätigkeit weitere vier Stunden arbeiten würde, käme sie auf eine Wochenarbeitszeit von 44 Wochenstunden und läge damit innerhalb der gem. § 3 ArbZG zulässigen durchschnittlichen Wochenarbeitszeit von 48 Stunden. Darüber hinaus ist bei der Zumutbarkeit einer Nebentätigkeit auf die spezifische Arbeits- und Lebenssituation des Pflichtigen abzustellen (OLG Hamm, FamRZ 2010, 985). Angesichts ihrer geregelten Arbeitszeiten, der einfachen Entfernung zwischen ihrer Wohnung und ihrer Arbeitsstelle von 17,4 km, dem Umstand, dass sie diese Wegstrecke mit dem PKW und damit in kurzer Zeit zurücklegen kann und schließlich vor dem Hintergrund, dass sie keine weiteren Kinder zu betreuen hat, ist es ihr ohne weiteres zuzumuten, eine zusätzliche (geringfügige) Nebentätigkeit aufzunehmen, die sie in die Lage versetzt, die fehlenden Beträge für den Mindestunterhalt zu erwirtschaften. In Betracht kommt beispielsweise eine Nebentätigkeit als Thekenkraft im Fitnessstudio/Tanzschule oder als Aushilfskraft in einer Bäckerei oder Tankstelle. Die Darlegungs- und Beweislast für das Fehlen oder die Unzumutbarkeit einer Nebentätigkeit hat der Unterhaltsschuldner. Da die Antragsgegnerin anscheinend bislang nicht einmal auf die Idee gekommen ist, neben ihrer Vollzeittätigkeit eine Nebentätigkeit auszuüben, können entsprechende Bemühungen nicht festgestellt werden. Von einer realen Beschäftigungschance ist angesichts der Zeit, die der Antragsgegnerin hierfür zur Verfügung steht – in den frühen Morgenstunden, den Abendstunden oder am Wochenende – bei lebensnaher Betrachtung auszugehen.
Für die Zeit davor rechnet das OLG ihr die späteren tatsächlichen Einkünfte als erzielbar (fiktiv) an:
Der Streit zwischen den Beteiligten, welches Einkommen die Antragsgegnerin als ungelernte Arbeitskraft hätte erzielen können, hat sich durch die tatsächliche Entwicklung erledigt. Die Antragsgegnerin erzielt inzwischen als Sachbearbeiterin ein monatliches Nettoeinkommen von 1.425,37 €. Es gibt keinen Anlass zu der Annahme, dass es ihr nicht möglich gewesen wäre, schon ein Jahr früher eine solch dotierte Stelle zu finden, wenn sie sich hinreichend bemüht hätte, denn ihre berufliche Qualifikation hat sich in dem einen Jahr nicht wesentlich gesteigert. Insbesondere ist weder vorgetragen noch ersichtlich, dass ihre dreimonatige Ausbildung/Umschulung ihre beruflichen Kenntnisse so wesentlich vorangebracht hätte, dass sich hierdurch ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt erhöht hätten.
Oberlandesgericht Hamm, 12 UF 225/14 – Beschluss vom 24.04.2015
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Dass sich der Antragsgegner seit 01.09.2021 in Ausbildung befindet, ändert an den Ausführungen zum fiktiven Einkommen aus einer 48-Stunden-Tätigkeit nichts.
Zwar ist es unterhaltsrechtlich anerkannt, dass einer Erstausbildung regelmäßig auch gegenüber der gesteigerten Unterhaltspflicht aus § 1603 Abs. 2 S. 1 BGB der Vorrang einzuräumen ist, da diese zum eigenen Lebensbedarf des Unterhaltspflichtigen gehört (BGH FamRZ 2011, 1041 ff).
Allerdings gilt ausnahmsweise etwas anderes dann, wenn der Unterhaltspflichtige sich in der Vergangenheit stets auf die Ausübung ungelernter Tätigkeiten beschränkt hat (BGH FamRZ 1994, 372). Ein solcher Ausnahmefall setzt die Ausübung ungelernter Tätigkeiten über einen längeren - mehrjährigen - Zeitraum voraus.
In BGH FamRZ 1994, 372 wurde insoweit ausgeführt:
Die Erlangung einer angemessenen Vorbildung zu einem Beruf gehört zum eigenen Lebensbedarf des Unterhaltspflichtigen, den dieser grundsätzlich vorrangig befriedigen darf. Das mag anders sein, wenn der Unterhaltspflichtige sich in der Vergangenheit stets auf die Ausübung von ungelernten Tätigkeiten beschränkt hat und sich erst später zur Aufnahme einer Berufsausbildung entschließt, obwohl sich der Anlass, seine Arbeits- und Verdienstchancen durch eine Ausbildung zu verbessern, für ihn nicht verändert hat. In derartigen Fällen wird zu prüfen sein, ob es dem Unterhaltspflichtigen nicht zuzumuten ist, die nunmehr angestrebte Ausbildung zu verschieben und ihre Aufnahme solange zurückzustellen, bis die Kinder nicht mehr unterhaltsbedürftig sind oder mit einem etwaigen reduzierten Unterhalt, den der Unterhaltspflichtige auch während der Ausbildung zu leisten vermag, ihr Auskommen finden.
Nach Angaben im Schriftsatz vom 08.11.2021 arbeitet der Antragsgegner "seit vielen Jahren" bzw. "schon während des Zusammenlebens der Kindeseltern" als ungelernte Kraft. Im August 2021 wurde er 45 Jahre alt. Ein besonderer Anlass dafür, die Arbeits- und Verdienstchancen gerade nunmehr - wenige Monate nach Verfahrensbeginn - durch eine Ausbildung zu verbessern, wird vom Antragsgegner nicht behauptet und ist auch nicht ersichtlich.
Unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung, der sich der Senat anschließt, kann er sich seinen minderjährigen Kindern gegenüber deswegen nunmehr nicht auf sein Recht auf Erstausbildung berufen.
OLG Bamberg - Beschluss vom 09.02.2022 (7 UF 196/21)
Aus dem BGH-Urteil vom 24. September 2014 · Az. XII ZB 111/13:
Auch wenn der Unterhalt aufgrund eines - wegen Verletzung der Erwerbsobliegenheit - lediglich fiktiven Einkommens aus einer Vollzeiterwerbstätigkeit festzusetzen ist, trifft den Antragsgegner grundsätzlich zudem eine Obliegenheit zur Ausübung einer Nebentätigkeit im selben Umfang wie einen seine Erwerbsobliegenheit erfüllenden Unterhaltsschuldner (Senatsbeschluss vom 22. Januar 2014 - XII ZB 185/12 - FamRZ 2014, 637 Rn. 18). Trotz der gesteigerten Unterhaltspflicht ergeben sich die Grenzen der vom Unterhaltspflichtigen zu verlangenden Tätigkeiten aus den Vorschriften des Arbeitsschutzes und den Umständen des Einzelfalls. Die Anforderungen dürfen nicht dazu führen, dass eine Tätigkeit trotz der Funktion des Mindestunterhalts, das Existenzminimum des Kindes zu sichern, unzumutbar erscheint (vgl. Senatsurteile BGHZ 189, 284 = FamRZ 2011, 1041 Rn. 29 ff. und vom 3. Dezember 2008 - XII ZR 182/06 - FamRZ 2009, 314 Rn. 20, 28). (…) Abgesehen von der Frage, ob der Antragsgegner aus seiner Tätigkeit im Restaurant und als Musiker nicht ein höheres Einkommen erzielt oder erzielen kann, hätte das Oberlandesgericht jedenfalls erwägen müssen, ob ihm neben der unterstellten Vollzeittätigkeit auch die Ausübung einer Nebentätigkeit möglich ist, die vom Unterhaltspflichtigen im Rahmen der gesteigerten Unterhaltspflicht nach § 1603 Abs. 2 BGB zur Sicherung des Existenzminimums seines Kindes grundsätzlich zu verlangen ist (Senatsbeschluss vom 22. Januar 2014 - XII ZB 185/12 - FamRZ 2014, 637 Rn. 18). Auch die Unzumutbarkeit einer Nebentätigkeit fällt in die Darlegungs- und Beweislast des Antragsgegners. Allein aus der Tatsache, dass er mit weiteren eigenen Kindern und Kindern seiner Partnerin zusammenlebt, folgt für sich genommen noch nicht, dass ihm eine Nebentätigkeit nicht zumutbar sei. Demnach ist nicht ausgeschlossen, dass der Antragsgegner das bislang bezogene Einkommen etwa aus Schlagzeugunterricht auch neben einer vollschichtigen Erwerbstätigkeit weiter erzielen kann.
Die Sache wird an das OLG Schleswig zurück gegeben.
BGH-Urteil vom 24. September 2014 · Az. XII ZB 111/13
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Zusätzlich zur Vollzeittätigkeit ist dem Unterhaltspflichtigen eine Nebenbeschäftigung in der Freizeit zuzumuten, um für seine Kinder Unterhalt zahlen zu können. Auch wenn der Unterhalt aufgrund eines - wegen Verletzung der Erwerbsobliegenheit - lediglich fiktiven Einkommens festzusetzen ist, trifft den Antragsgegner eine Obliegenheit zur Ausübung einer Nebentätigkeit im selben Umfang wie einen seine Erwerbsobliegenheit erfüllenden Unterhaltsschuldner (BGH FamRZ 2014, 637).
Selbst wenn der Vater regelmäßig Umgang mit den Kindern pflegt, könnte er pro Woche jedenfalls einige weitere Stunden arbeiten (vgl. OLG Bamberg FamRZ 2005, 1114 ). Unter Berücksichtigung des gesetzlichen Mindestlohns von 9,60 Euro könnte der Vater so brutto wie netto pro Monat weitere (4 Stunden x 4,5 x 9,60 Euro =) 172,80 Euro verdienen. Der Vater könnte beispielsweise ein- oder zweimal pro Woche an seinem Wohnort Presseerzeugnisse verteilen. Denkbar wäre auch eine Tätigkeit an einem Abend pro Woche in der Gastronomie oder als Aushilfskraft an einer Tankstelle. Besondere (berufsbedingte) Aufwendungen werden bei diesen Tätigkeiten nicht anfallen.
OLG Bamberg - Beschluss vom 09.02.2022 (7 UF 196/21)
Bleibt nach der Trennung der Vater allein in der nun zu großen und teuren Ehewohnung zurück, stellt sich die Rechtsfrage, ob er rasch umziehen muss, um mehr Kindesunterhalt zahlen zu können.
Nein, sagt das Oberlandesgericht Köln im Beschluss vom 19.07.2013 (10 WF 65/13):
Entgegen der Meinung des Amtsgerichts kann vor Ablauf des Trennungsjahres grundsätzlich nicht verlangt werden, die Ehewohnung aufzugeben, um sich eine kleinere, preisgünstigere Wohnung zu suchen, damit der Mindestunterhalt sichergestellt ist. In der Anfangsphase der Trennung ist nicht hinreichend sicher voraussehbar, ob die Ehe geschieden wird, sodass es grundsätzlich sachgerecht erscheint, den bisherigen räumlichen Bereich der Familie zunächst weiter zu erhalten. Hinzu kommt, dass der Antragsgegner grundsätzlich die gesetzlichen Kündigungsfristen für die Beendigung des Mietverhältnisses einzuhalten hat, sodass bei der hier gebotenen vorläufigen Beurteilung frühestens ab 2013 ein Umzug in eine preiswertere Wohnung verlangt werden kann. Bis dahin kann der Antragsgegner einen um 340 € erhöhten Selbstbehalt geltend machen.
BGH, Beschluss vom 09.03.2022 - Aktenzeichen XII ZB 233/21:
Auch beim Kindesunterhalt können grundsätzlich bis zur Höhe des Wohnvorteils neben den Zinszahlungen zusätzlich die Tilgungsleistungen berücksichtigt werden, die der Unterhaltspflichtige auf ein Darlehen zur Finanzierung einer selbstgenutzten Immobilie erbringt. Überschreitet der Schuldendienst für die Immobilie den dadurch geschaffenen Wohnvorteil nicht, ist aber gleichwohl der Mindestunterhalt minderjähriger Kinder gefährdet, kann dem gesteigert Unterhaltspflichtigen zwar nicht eine vollständige Aussetzung der Tilgung, wohl aber nach den Umständen des Einzelfalls ausnahmsweise eine Tilgungsstreckung zugemutet werden. Dies kommt beispielsweise dann in Betracht, wenn eine besonders hohe Tilgung vereinbart wurde oder die Immobilie bereits weitgehend abbezahlt ist.
Aus dem BGH-Urteil vom 19. März 2014 · Az. XII ZB 367/12:
Zutreffend ist das Berufungsgericht davon ausgegangen, dass sich der Antragsgegner weiterhin Einkünfte wegen der Nutzung des im Miteigentum der geschiedenen Ehegatten stehenden Einfamilienhauses anrechnen lassen muss. (…) Ob der Wohnvorteil nach dem objektiven Mietwert oder in einer geringeren Höhe zu bemessen ist, hängt maßgeblich davon ab, ob der die Immobilie Nutzende gehalten ist, diese anderweitig zu verwerten. Soweit das von einem Ehegatten vor dem endgültigen Scheitern der Ehe (regelmäßig vor Zustellung des Scheidungsantrags) mit Rücksicht auf die Möglichkeit der Wiederherstellung der ehelichen Lebensgemeinschaft noch nicht erwartet werden kann, ist der Wohnvorteil in dieser Zeit nur in einer Höhe (…) zu bestimmen, welchen Mietzins er auf dem örtlichen Wohnungsmarkt für eine dem ehelichen Lebensstandard entsprechende, angemessene kleinere Wohnung zahlen müsste. Der volle Wohnvorteil kommt grundsätzlich erst dann zum Tragen, wenn mit einer Wiederherstellung der ehelichen Lebensgemeinschaft nicht mehr zu rechnen ist (Senatsurteil vom 5. März 2008 - XII ZR 22/06 - FamRZ 2008, 963 Rn. 14 ff.). (…) Geht es dagegen um die Leistungsfähigkeit eines Unterhaltspflichtigen gegenüber einem minderjährigen Kind, ist die Höhe des Wohnwerts grundsätzlich mit der bei einer Fremdvermietung erzielbaren objektiven Marktmiete zu bemessen (Senatsbeschluss vom 10. Juli 2013 - XII ZB 298/12 - FamRZ 2013, 1563 Rn. 16). (…) Dass das Beschwerdegericht den Wohnwert in Höhe der vom Antragsgegner ersparten angemessenen Miete mit monatlich 400 € anstelle der objektiven Marktmiete von 570 € bemessen hat, begegnet nach den getroffenen Feststellungen gleichwohl keinen rechtlichen Bedenken. Danach will der Antragsgegner das Haus, das er während der Ehe zusammen mit der Mutter der unterhaltsberechtigten Kinder als Familienheim erworben hat, veräußern. (…) Wenn von dem Antragsgegner aber nicht erwartet werden kann, dass er das Haus vermietet, besteht kein Grund, ihm hierdurch erzielbare höhere Einkünfte, die über den Betrag der ersparten angemessenen Miete von 400 € monatlich hinausgehen, anzurechnen. (…)
Der vom Bundesgerichtshof zum Elternunterhalt aufgestellte Grundsatz, neben den Zinsen auch die Tilgungsleistungen bis zur Höhe des Wohnvorteils vom Einkommen des Unterhaltspflichtigen abzuziehen, ohne dass dies seine Befugnis zur Bildung eines zusätzlichen Altersvorsorgevermögens schmälert, bestätigt in einem obiter dictum auch im Rahmen eines Verfahrens zum nachehelichen Unterhalt, gilt auch beim Kindesunterhalt, solange und soweit der Mindestkindesunterhalt gedeckt ist.
OLG Frankfurt a. M., Beschluss vom 14.6.19 – 8 UF 25/18
BGH, Beschluss vom 18.01.2017 - XII ZB 118/16
BGH, Beschluss vom 4.7.2018 – XII ZB 448/17 (Rn. 31)
Der BGH geht im Beschluss vom 09.03.2022 - XII ZB 233/21 - sogar noch weiter und nimmt eine Reduzierung des Mindestunterhaltes in Kauf, wenn die Darlehensrate geringer ist als der Wohnvorteil.
Auch beim Kindesunterhalt können grundsätzlich bis zur Höhe des Wohnvorteils neben den Zinszahlungen zusätzlich die Tilgungsleistungen berücksichtigt werden, die der Unterhaltspflichtige auf ein Darlehen zur Finanzierung einer selbstgenutzten Immobilie erbringt. Überschreitet der Schuldendienst für die Immobilie den dadurch geschaffenen Wohnvorteil nicht, ist aber gleichwohl der Mindestunterhalt minderjähriger Kinder gefährdet, kann dem gesteigert Unterhaltspflichtigen zwar nicht eine vollständige Aussetzung der Tilgung, wohl aber nach den Umständen des Einzelfalls ausnahmsweise eine Tilgungsstreckung zugemutet werden. Dies kommt beispielsweise dann in Betracht, wenn eine besonders hohe Tilgung vereinbart wurde oder die Immobilie bereits weitgehend abbezahlt ist.
Aus dem BGH-Urteil vom 19. März 2014 · Az. XII ZB 367/12: (...) Gleichwohl können die Hausdarlehen jedenfalls nicht in voller Höhe als abzugsfähig angesehen werden. Bei der hiernach gebotenen Abwägung fällt zunächst ins Gewicht, dass der Antragsgegner den Mindestunterhalt seiner Kinder nicht gewährleisten kann, wenn die Darlehensraten in voller Höhe von seinem Einkommen abgezogen werden. Andererseits handelt es sich um Verbindlichkeiten, die der Antragsgegner im Interesse seiner Familie eingegangen ist, um ihr ein Eigenheim zu bieten. Jedenfalls ein Anwachsen der Verschuldung durch Zinsen, das Folge des Nichtbedienens der Darlehen wäre, braucht der Antragsgegner deshalb grundsätzlich nicht hinzunehmen. Im vorliegenden Fall besteht indessen die Besonderheit, dass das Haus verkauft werden sollte. Im Hinblick darauf hat der Antragsteller geltend gemacht, Kreditinstitute stellten in Fällen bestehender Veräußerungsabsicht Kredite tilgungsfrei. Wie die Rechtsbeschwerde zu Recht rügt, hat der für seine Leistungsfähigkeit darlegungs- und beweispflichtige Antragsgegner (vgl. Senatsurteil vom 27. November 2002 - XII ZR 295/00 - FamRZ 2003, 444, 445) zu konkreten Bemühungen um eine Minderung der aktuellen Belastung im Wege der Stundung oder Streckung der Raten bzw. Aussetzung der Tilgung nichts vorgetragen. Auf welcher tatsächlichen Grundlage das Berufungsgericht zu dem Ergebnis gelangt ist, die Kreditinstitute hätten eine Tilgungsstreckung oder -aussetzung abgelehnt, ist der angefochtenen Entscheidung nicht zu entnehmen. Solange hierzu indessen keine konkreten Feststellungen getroffen sind, ist die Annahme, auf die Kredite müssten zwingend die vereinbarten Raten gezahlt werden, nicht gerechtfertigt.
Aber:
BGH, Beschluss vom 09.03.2022 - Aktenzeichen XII ZB 233/21:
Allerdings ist es - insbesondere bei der Gefährdung des Mindestunterhalts minderjähriger Kinder - nicht generell ausgeschlossen, dem Unterhaltspflichtigen eine Obliegenheit zur Tilgungsstreckung aufzuerlegen. Das Argument, dass die gesamte Darlehensrate einschließlich des darin enthaltenen Tilgungsanteils durch den gegenzurechnenden Wohnvorteil kompensiert wird, zwingt lediglich dazu, dem Grunde nach neben den Zinszahlungen auch Tilgungsleistungen auf das Finanzierungsdarlehen anzuerkennen, ohne dass damit in jedem Fall etwas über die Höhe der unterhaltsrechtlich zu berücksichtigenden Tilgungsanteile ausgesagt wäre (vgl. Norpoth FamRZ 2008, 2245 , 2249). Nur eine völlige Aussetzung der Tilgungsleistungen ist dem Unterhaltspflichtigen im Rahmen der Interessenabwägung regelmäßig unzumutbar. Wird trotz vollständiger Kompensation des Schuldendienstes durch den gegenzurechnenden Wohnvorteil die Darlehenstilgung gestreckt und dadurch ein dem Unterhaltspflichtigen unterhaltsrechtlich zuzurechnender positiver Wohnwert erzeugt, bewirkt dies bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise freilich eine Herabsetzung des maßgeblichen Selbstbehalts, und zwar mit der Begründung, dass der Unterhaltspflichtige als Darlehensnehmer - bei nunmehr herabgesetzten Tilgungsanteilen - für die Deckung der Wohnbedürfnisse im eigenen Haus weniger Mittel aufwenden muss, als wenn er das gleiche Haus als Mieter bewohnen würde und dafür als Entgelt die objektive Marktmiete bezahlen müsste. Dies wird nur in Ausnahmefällen in Betracht gezogen werden können, so etwa, wenn eine ungewöhnlich hohe Tilgung vereinbart oder das Eigenheim bereits weitgehend abgezahlt worden ist.
Davon kann unter den hier obwaltenden Umständen nicht ausgegangen werden. Die Rückzahlung des grundpfandrechtlich gesicherten Kredits bei der D.-Bank ist auf 30 Jahre ausgelegt. Der in den vereinbarten Kreditraten enthaltene anfängliche Tilgungssatz liegt - bezogen auf beide von dem Antragsgegner aufgenommenen Finanzierungsdarlehen - unter 2 %. Da der Antragsgegner die Darlehen mit diesem anfänglichen Tilgungssatz erst seit dem Jahr 2017 bedient, konnte bislang auch noch kein nennenswerter Teil der gesamten Darlehensschuld zurückgezahlt werden.
Aus dem BGH-Urteil vom 19. März 2014 · Az. XII ZB 367/12: (...) Was die Kreditrate für den Kauf eines Pkw anbelangt, hat das Beschwerdegericht, wie die Rechtsbeschwerde ebenfalls zu Recht beanstandet, nicht die erforderliche umfassende Interessenabwägung vorgenommen, sondern auf seine Ausführungen zu den für die Hausfinanzierung aufgenommenen Krediten Bezug genommen. Ob der Antragsgegner, der an seinem Wohnort arbeitet, aus beruflichen Gründen einen Pkw benötigt, ist nicht festgestellt. Da es andererseits um den Mindestunterhalt der Kinder des Antragsgegners geht, kann ihm nicht zugestanden werden, Kreditverbindlichkeiten ohne Rücksicht auf die Belange der Unterhaltsberechtigten zu tilgen. Falls er auf die Nutzung eines Fahrzeugs nicht angewiesen sein sollte, obliegt es ihm, dieses zu veräußern. Andernfalls wären seine Fahrtkosten nach Maßgabe der vom Berufungsgericht herangezogenen Leitlinien in der Weise zu bemessen, dass damit auch anteilige Finanzierungskosten abgedeckt werden.
Die Sache wurde an das OLG Hamm zurück verwiesen.
BGH-Urteil vom 19. März 2014 · Az. XII ZB 367/12
„Verkehrte Welt“ ist dann, wenn das Kind bei dem Elternteil lebt, der deutlich mehr verdient als der andere. Dann ist zu prüfen, ob der Wenigerverdiener trotzdem „ganz normal“ Unterhalt leisten muss.
BGH, 10.07.2013 - XII ZB 297/12: „Kann auch der an sich barunterhaltspflichtige Elternteil bei Zahlung des vollen Kindesunterhalts seinen angemessenen Selbstbehalt verteidigen, wird eine vollständige oder anteilige Haftung des betreuenden Elternteils für die Aufbringung des Barunterhalts nur in wenigen, besonderen Ausnahmefällen in Betracht kommen.“
Um dieselbe Familie ging es hier:
BGH, 10.07.2013 - XII ZB 298/12: „Für berechtigten Mehrbedarf eines minderjährigen Kindes haben grundsätzlich beide Elternteile anteilig nach ihren Einkommensverhältnissen und nach den Maßstäben des § 1603 Abs. 1 BGB aufzukommen, so dass vor der Gegenüberstellung der beiderseitigen unterhaltsrelevanten Einkünfte generell ein Sockelbetrag in Höhe des angemessenen Selbstbehalts abzuziehen ist.“
Hartz-IV-Bezieher mit Kind wird zu Unterhalt für zwei weitere Kinder verurteilt
Wer Hartz IV bezieht, ist dadurch nicht automatisch von der Unterhaltspflicht für seine Kinder befreit. Denn anders als das Jobcenter kennt das Familiengericht sog. „fiktive Einkünfte“, die ein Unterhaltspflichtiger erzielen könnte, wenn er sich mehr bemühen würde.
Die geschiedenen Eltern hatten drei Kinder, von denen der ältere Sohn beim Vater lebte, die jüngeren Töchter bei der Mutter. Bereits während der Ehe hatte die Familie Leistungen des Jobcenters bezogen. Nun zahlte die Unterhaltsvorschusskasse für die Mädchen bei der Mutter, das Jobcenter für den Jungen beim Vater. Das Familiengericht hatte zu entscheiden, ob der Vater der Unterhaltsvorschusskasse etwas zu erstatten und in Zukunft den Mindestunterhalt an die Mutter zu zahlen hatte. Ansatzpunkt dafür war das Argument, dass er hätte arbeiten können, so dass man fiktiv seine Leistungsfähigkeit errechnete.
In 1. Instanz wurde dieses fiktive Einkommen mit dem Mindestlohn ermittelt, aber bevor es davon etwas für die Töchter zu verteilen gab, wurde der Bedarf des im Haushalt lebenden Sohnes abgezogen. So blieben nur 17 Euro mtl. je Tochter mtl. zu zahlen übrig.
In der Beschwerdeinstanz beim OLG argumentierten die Antragstellerinnen mit Erfolg, der Vater könne mehr als nur Mindestlohn verdienen, z.B. als Fahrer eines Kleintransporters. Vor allem aber sei der Bedarf des Sohnes nicht abzuziehen, da dessen Bedarf ja von Hartz IV gedeckt sei.
Das OLG errechnete, dass der Vater eine stattliche Summe Rückstand und ab sofort 128 € mtl. für die jüngere und 159 € mtl. für die ältere Tochter zahlen muss, auch wenn er kein Einkommen hatte. Zum einen war das OLG nicht davon überzeugt, dass der Vater sich um eine Erwerbstätigkeit gekümmert habe. Er habe eine reale Beschäftigungschance, und wenn er sich von Anfang des Verfahrens an bemüht hätte, wäre sein Lohn auf inzwischen 2.250 € brutto gestiegen.
Für die Vergangenheit galt nun betreffend den Bedarf des Sohnes: Dafür hatte das Jobcenter bezahlt und konnte das nicht zurückverlangen, weil dem SGB II die Anrechnung fiktiven Einkommens fremd ist. Bei der Berechnung des Rückstandes spielte der Sohn daher keine Rolle.
Zwar handelt es sich bei den Leistungen nach dem SGB II um nachrangige sozialstaatliche Zuwendungen ohne Einkommensersatzfunktion, die lediglich der vorübergehenden Unterhaltssicherung dienen und daher nicht bedarfsdeckend auf den Unterhalt anzurechnen sind. Da der Vater aber in der Vergangenheit für den in seinem Haushalt lebenden Sohn kein eigenes Geld aufbringen musste, durfte dessen Unterhaltsbedarf ihn bei der Rückstands-Berechnung für die Töchter auch nicht entlasten.
Anders aber für die Zukunft:
Wenn man schon fiktiv unterstellt, der Vater würde 2.250 € brutto verdienen, dann muss man auch die Konsequenz weiterdenken, dass er dann kein Hartz IV beziehen würde und hiervon auch den Sohn mitfinanzieren muss. Dann aber kann der Unterhalt für die Töchter nur unter Berücksichtigung des Bedarfes des Sohnes berücksichtigt werden, sog. Ausfallhaftung, weil ja bei der Mutter nichts zu holen war. Es wurde eine sog. Mangelfallquote gebildet.
Hinweis:
Das OLG geht nicht auf die Frage ein, warum der Vater für den bei ihm lebenden Sohn nicht ebenfalls Unterhaltsvorschuss vom Jugendamt bekam – oder in dem fiktiv gebildeten Fall für die Zukunft hätte beantragen müssen. Dann hätte sich nämlich auf Seiten der Mutter dieselbe Frage gestellt, warum sie kein Einkommen erwirtschaften kann.
OLG Hamm, Beschluss vom 21.07.2022 - Aktenzeichen 2 UF 88/21
OLG Köln, Beschluss 10 UF 116/15 vom 9.3.2016
Leistungsfähigkeit: Erwerbstätigkeit neben jüngeren Kindern, Wiederungelernt nach 20 Jahren Erwerbspause im Beruf, Wohnen im Haus des neuen Partners, Haushaltsführung in der neuen Familie
Typischer Fall: Eltern trennen sich, Vater zieht aus, Mutter und Kinder bleiben im Eigenheim wohnen. Wenn das Eigenheim bereits abbezahlt ist oder der Vater die Kreditraten trägt, stellt sich in der Praxis immer wieder die Frage, was das für den Kindesunterhalt nach der Düsseldorfer Tabelle bedeutet. Denn in dem Warenkorb der Tabelle sind natürlich auch Wohnkosten enthalten, die aber hier nicht konkret anfallen. Der BGH hat diese Frage im Mai 2022 geklärt.
Im konkreten Fall war das Haus abbezahlt und gehörte dem Vater zu 60%, der Mutter zu 40%. Der Vater hatte von der Mutter keine Nutzungsentschädigung für seinen Anteil verlangt, die Mutter hatte vom Vater keinen Trennungsunterhalt verlangt.
Am 31.10.2012 und 17.12.2008 hatte der BGH bereits Überlegungen zu der in der Literatur vertretenen Meinung angestellt, ob man 20% des Tabellenbedarfes als Wohnkosten ansetzen kann und – wenn das Haus dem barunterhaltspflichten Elternteil gehört – in dieser Höhe eine bedarfsdeckende Erfüllung des Unterhaltsanspruches sehen kann.
Nun aber stellt der BGH klar, dass die Frage des Wohnvorteiles nicht in den Kindesunterhalt gehört, sondern auf die Ebene zwischen den Eltern – in den Trennungs-/ Nachscheidungsunterhalt oder als Nutzungsentschädigung.
Es steht den Eltern frei, dazu eine Berechnung durchzuführen, eine Vereinbarung zu treffen oder eine gerichtliche Klärung herbeizuführen. Dort wird dann der Wohnvorteil für das gesamte Objekt der Mutter zugeordnet und mindert ihren Unterhaltsanspruch bzw. muss sie Nutzungsentschädigung zahlen.
Der Kindesunterhalt nach Düsseldorfer Tabelle ist aber in voller Höhe zu zahlen.
Hinweis:
Sowohl den Unterhalt zwischen den Ehegatten als auch die Nutzungsentschädigung bekommt man nicht rückwirkend, wenn der andere nicht „in Verzug“ gesetzt wurde. Daher ist es immer die schlechteste Lösung, nicht unmittelbar nach der Trennung auch die o.g. Berechnung durchzuführen.
BGH 18.05.2022 - XII ZB 325/20
Oberlandesgericht Jena (1 UF 353/13) zum Verzicht auf Kindesunterhalt für die Zukunft:
„Allerdings sind auch beim Kindesunterhalt Vereinbarungen für die Zukunft nicht schlechthin ausgeschlossen. Da der angemessene Unterhalt ohnehin kein fester Betrag ist, besteht für Unterhaltsvereinbarungen vielmehr ein gewisser Spielraum, der seine Grenze erst dort findet, wo die Vereinbarung selbst nicht mehr angemessen ist, d. h. nicht mehr eine bloße Konkretisierung des gesetzlich geschuldeten Unterhalts nach individuellen Verhältnissen darstellt, sondern das gesetzliche Unterhaltsmaß eindeutig unterschreitet und damit auf einen (vollständigen oder teilweisen) Verzicht hinausläuft. Bei Unterschreitung um mehr als 20 % ist im Einzelfall zu prüfen, ob ein gegen § 1614 Abs. 1 BGB verstoßender Verzicht vorliegt (Wendl/Dose/Scholz, Das Unterhaltsrecht in der familienrichterlichen Praxis, 8. Auflage, § 2, Rn. 759 f.).“
Wie groß muss das Ungleichgewicht sein?
Ein solches Ungleichgewicht liegt jedenfalls dann vor, wenn der betreuende Elternteil ein erheblich höheres Vermögen und ein mehr als dreifach höheres Nettoeinkommen als der nichtbetreuende Elternteil hat (vgl. BGH, Beschl. v. 10.07.2013 – XII ZB 297/12, FamRZ 2013, 1558, Rdnr. 29; BGH, FamRZ 1984, 39).
Vielfach wird ein erhebliches finanzielles Ungleichgewicht bereits dann angenommen, wenn der betreuende Elternteil doppelt so viel verdient wie der barunterhaltspflichtige (OLG Brandenburg, FamRZ 2006, 1780; OLG Schleswig, DAVorm 1985, 319).
Als absolute Grenze wird auch eine Mindestdifferenz von 500 € vertreten (OLG Schleswig, FamRZ 2014, 1643).
Weniger gravierende Einkommensunterschiede sollen eine anteilige Barunterhaltspflicht des betreuenden Elternteils nicht rechtfertigen (OLG Bamberg, EzFamR aktuell 2000, 154).
Jedoch ist anstelle einer schematischen Betrachtung in die Beurteilung einzubeziehen, dass der betreuende Elternteil ohnehin schon dadurch einen finanziellen Beitrag zum Unterhalt der Kinder erbringt, dass diese bei ihm wohnen (OLG Karlsruhe, FamRZ 1993, 1116, 1117).
Dennoch darf bei dem Einkommensvergleich der gewährte Betreuungsunterhalt nicht monetarisiert und vom Einkommen des betreuenden Elternteils als Belastung abgesetzt werden (BGH, FamRZ 1991, 182, 183; OLG Hamburg, FamRZ 1985, 290).
Angebracht ist es aber, einen konkret belegten Betreuungsaufwand als besondere Belastung beim betreuenden Elternteil zu berücksichtigen (vgl. den Fall des OLG Düsseldorf, FamRZ 1992, 92, 94; ferner OLG Koblenz, FamRZ 1991, 1475, 1476; OLG Schleswig, FamRZ 1990, 518; OLG Oldenburg, FamRZ 1988, 724, 725; Graba, FamRZ 1990, 454, 456 f.).
Setzt man die Einkünfte der Elternteile zueinander ins Verhältnis, wird sich in beengten finanziellen Verhältnissen eher ein Ungleichgewicht ergeben als bei guten finanziellen Verhältnissen.
Aber auch dann ist nicht einfach ein schematischer Vergleich der Einkünfte vorzunehmen. Eine anteilige Haftung des betreuenden Elternteils ist zu verneinen, wenn ihm bei Leistung des Barunterhalts gerade noch der angemessene Selbstbehalt verbleiben würde.
Dies gilt auch dann, wenn die Leistung durch den Barunterhaltspflichtigen dessen angemessenen Selbstbehalt gefährden würde und diesem nur der notwendige Selbstbehalt verbliebe (OLG Düsseldorf, FamRZ 1992, 92).
Die Beweislast für die günstigen wirtschaftlichen Verhältnisse des Betreuenden trägt der Barunterhaltspflichtige (BGH, FamRZ 1981, 347).
Fiktiver Unterhalt bei verletzten Mitwirkungspflichten:
Eine Mutter, die für sich und ihr Kind SGB II-Leistungen begehrt, muss dem Jobcenter den Namen des ihr bekannten Kindesvaters nennen, damit mögliche Unterhaltsansprüche realisiert werden können. Wenn dieser Mitwirkungspflicht nach § 60 Abs. 1 SGB I nicht nachgekommen wird, können fiktive Unterhaltszahlungen auf den Leistungsanspruch angerechnet werden.
Abzustellen sei auf den durchschnittlichen Nettoarbeitslohn eines vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmers, sodass Stufe 2 der Düsseldorfer Tabelle (Nettoeinkommen zwischen 1.901 und 2.300 € monatlich) zugrunde zu legen sei.
Sozialgericht Gießen, Gerichtsbescheid v. 04.12.2020 - S 29 AS 700/19
BGH-Beschluss vom 27. Oktober 2021 - XII ZB 123/21
Wenn unterhaltspflichtige Eltern den Mindestunterhalt nicht aufbringen können, lohnt sich der Blick in die Generation der Großeltern.
Im Fall aus Leipzig (OLG Dresden), über den der BGH entschied, konnte der Kindesvater unter Beachtung seines angemessenen Selbstbehaltes nur 100 € Kindesunterhalt aufbringen, den Rest übernahm die Unterhaltsvorschusskasse. Diese wollte den Vater in Regress nehmen, weil ihm nur der notwendige Selbstbehalt verbleiben dürfe.
Es ging um die Rechtsfrage, ob die sog. gesteigerte Unterhaltspflicht der Eltern gegenüber ihren minderjährigen Kindern auch dann besteht, wenn finanziell leistungsfähige Großeltern vorhanden sind. Diese Frage ist u.a. dafür von Bedeutung, ob ein erwerbstätiger Elternteil für den Kindesunterhalt sein oberhalb des sog. notwendigen Selbstbehalts (derzeit 1.160 €) liegendes Einkommen einzusetzen hat oder lediglich das Einkommen oberhalb seines sog. angemessenen Selbstbehalts (derzeit 1.400 €). Verwandte in gerader Linie haben einander nach § 1601 BGB Unterhalt zu gewähren, wobei die Unterhaltspflicht der Eltern für ihre Kinder derjenigen der Großeltern für ihre Enkel vorgeht (§ 1606 Abs. 2 BGB). Unterhaltspflichtig ist nach § 1603 Abs. 1 BGB nicht, wer seinen angemessenen Unterhalt gefährden würde; der daraus abgeleitete angemessene Selbstbehalt eines Elternteils gegenüber seinem Kind betrug seinerzeit 1.300 €. Allerdings trifft Eltern minderjähriger Kinder gemäß § 1603 Abs. 2 Satz 1 BGB eine gesteigerte Unterhaltspflicht, weshalb ihnen insoweit nur der notwendige Selbstbehalt von seinerzeit 1.080 € zusteht. Diese sog. gesteigerte Verpflichtung tritt nach § 1603 Abs. 2 Satz 3 Halbsatz 1 BGB nicht ein, wenn ein anderer unterhaltspflichtiger Verwandter vorhanden ist.
Mit Erfolg verwies der Kindesvater auf seine Eltern. Diese verdienten diese als Polizeibeamter bzw. Postzustellerin knapp 3.500 und 2.300 € netto monatlich - ohne nennenswerte Abzugspositionen.
Damit war der Großvater auch mit einem erweiterten Sockelselbstbehalt (seinerzeit 1.800 € zzgl. der Hälfte des übersteigenden Einkommens wie beim Elternunterhalt) leistungsfähig und kam mit der “Ersatzhaftung“ § 1603 II S. 3 BGB zugunsten des Kindesvater in Betracht. Das führte dazu, dass für den Kindesvater nicht die Grundsätze der gesteigerten Unterhaltspflicht nicht griffen. Er konnte sich mit dem Hinweis auf die Leistungsfähigkeit der eigenen Eltern gegen Ansprüche der Unterhaltsvorschusskasse wehren. Dazu musste er auch nicht darlegen , ob auch die Großeltern mütterlicherseits leistungsfähig wären. Für den Ausschluss der erweiterten Unterhaltspflicht genügte es, dass der barunterhaltspflichtige Elternteil einen anderen unterhaltspflichtigen Verwandten nachweist.
Der Clou: Wegen der Unmöglichkeit des Regresses der Staatskasse gegen die Großeltern (§§ 7 UVG, 94 I S. 3 SGBXII) diente der Vortrag nur zur Erhöhung des Selbstbehaltes des Kindesvaters - nicht dazu, dass die Großeltern wirklich etwas zahlen mussten. Dass dies dem Gesetzgeber beim Erlass des UVG möglicherweise nicht bewusst war (BT-Drucks. 8/2774, S. 13, zur Anrechnung von Einkommen des Berechtigten), spielte für das OLG Dresden keine Rolle.
Hinweis:
Wäre der Anspruch nicht auf die Unterhaltsvorschusskasse übergegangen, hätten die Großeltern ggf. den Unterhalt zahlen müssen.
Ein Vater war vom Familiengericht zu Kindesunterhalt für seinen minderjährigen Sohn verurteilt worden, zahlte aber nicht. Daher ging die Unterhaltsvorschusskasse in Vorleistung für den Sohn und holte sich das Geld beim Vater zurück. Zwischen dem Betrag, den die Unterhaltsvorschusskasse zahlte und dem, den der Vater hätte zahlen müsste, klaffte aber eine monatliche Lücke, die sich zu einem kleinen Schuldenberg von über 3.000 € summierte.
Als der Sohn volljährig war, vollstreckte er den gegen seinen Vater.
Vor Gericht ging es nun um die Frage, ob der Anspruch dadurch verwirkt worden war, dass jahrelang niemand die Differenz explizit eingefordert hatte.
Der Verwirkungseinwand setzt voraus, dass mindestens mehr als ein Jahr nichts verlangt wurde (Zeitmoment) und dass der Unterhaltsschuldner sich darauf einrichten durfte und eingerichtet hat, dass der Unterhaltsgläubiger sein Recht nicht mehr durchsetzen werde (Umstandsmoment). Aus bloßer Untätigkeit des Gläubigers entstehen solche besonderen Umstände jedenfalls nicht.
Der Vater trug dazu vor, er habe nach Einschaltung der Unterhaltsvorschusskasse geglaubt, er müsse nur den geringen Betrag an die Kasse zahlen, nicht mehr den höheren an den Sohn. Das mag er wirklich geglaubt haben – aber Unkenntnis schützt bekanntlich nicht vor Rechtsfolgen. So lange ein Titel „in der Welt“ ist, gilt dieser, und eigene Gedanken dazu, ob dieser überhaupt noch gelten möge, sind fehl am Platz.
Andere Umstände, aus denen er hätte schließen können, sein Sohn bzw. dessen Mutter verzichte auf die Differenz, gab es nicht.
Die Leitsätze des OLG:
1. Dass das Verstreichenlassen einer Frist von mehr als einem Jahr für die Bejahung des für die Annahme einer Verwirkung erforderlichen Zeitmoments ausreichen kann, bedeutet - insbesondere bei titulierten Kindesunterhaltsansprüchen - keinen Automatismus dahingehend, dass stets schon nach Ablauf eines Jahres das Zeitmoment erfüllt ist.
2. Wenn es um titulierte Kindesunterhaltsansprüche geht, sind an die Erfüllung des für die Annahme einer Verwirkung erforderlichen Umstandsmoments strenge Maßstäbe anzulegen.
3. Der Schuldner kann grundsätzlich weder davon ausgehen, dass er mit seinen Zahlungen an die Unterhaltsvorschusskasse in Höhe der dem Gläubiger erbrachten UVG -Leistungen einen darüberhinausgehenden titulierten Unterhaltsanspruch des Gläubigers erfüllt, noch davon, dass der Gläubiger schon deshalb seinen titulierten Unterhaltsanspruch bzw. die Differenz zwischen diesem und den UVG -Leistungen nicht mehr geltend machen werde, weil er insoweit über einen Zeitraum von weniger als zweieinhalb Jahren schlicht untätig geblieben ist, schon gar nicht, wenn der Schuldner dem Gläubiger gegenüber zuvor eine angespannte finanzielle Situation behauptet und in Aussicht gestellt hat, nach deren Besserung seiner Zahlungspflicht nachzukommen.
Hinweis: Die Differenz zwischen tituliertem Unterhalt und der Leistung der Unterhaltsvorschusskasse liegt daran, dass die Unterhaltsvorschusskasse nur den Mindestunterhalt leistet und davon noch das gesamte Kindergeld abzieht.
OLG Bremen, Beschluss vom 14.12.2023 - Aktenzeichen 5 UF 36/23
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Praxis: Meine Erfahrungen mit mehr als 3500 Konfliktkonstellationen helfen bei der Einordnung, welche Strategie zur Lösung führen kann. Lesen Sie unbedingt meine Tipps zur Zusammenarbeit.
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„Es ist unklug, zu viel zu bezahlen, aber es ist noch schlechter, zu wenig zu bezahlen. Wenn Sie zu viel bezahlen, verlieren Sie etwas Geld, das ist alles. Wenn Sie dagegen zu wenig bezahlen, verlieren Sie manchmal alles, da der gekaufte Gegenstand die ihm zugedachte Aufgabe nicht erfüllen kann. Das Gesetz der Wirtschaft verbietet es, für wenig Geld viel Wert zu erhalten. Nehmen Sie das niedrigste Angebot an, müssen Sie für das Risiko, das Sie eingehen, etwas hinzurechnen. Und wenn Sie das tun, dann haben Sie auch genug Geld, um für etwas Besseres zu bezahlen.“
JOHN RUSKIN, englischer Sozialreformer
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